Plattenkritik: Nitrada – Everything That Is Not Counted Will be Lost (2nd rec)Outsider-Pop eines Insiders

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Nach 20 Jahren Stille krempelt Nitrada die Electronica-Welt um. Eine Welt, die er selbst entscheidend geprägt hat.

Die Musik, die ab dem Jahr 2000 auf dem Hamburger Label 2nd rec veröffentlicht wurde, war und ist wichtig. Mit einem vergleichsweise kleinen Katalog setzten die beiden Macher Johannes Schardt und Christophe Stoll ganz eigene Akzente im Kosmos zwischen Beats, Electronica und Indie mit Weitblick. Von der italienischen Band Giardini Di Mirò über Noah23 bis zu Nitrada, dem Projekt von Stoll, der auf seinen zwei Alben das damals so beliebte Knispeln in den Rhythmen mit seiner ganz eigenen Version von Songwriting verband. Hallt nach – bis heute. Dass Stoll jedoch 21 Jahre nach „We Don't Know Why But We Do It“ tatsächlich ein neues, drittes Album vorlegt, ist dann doch eine Überraschung.

Stolls Musik in den 2000ern war besonders. Eindrücklich und doch luftig leicht, dark, aber nie einschüchternd, euphorisch, dabei jedoch nie überbordend. Stillleben einer bewegten Zeit, in der der technologische Umbruch so großen Einfluss auf das Kompositorische hatte, wie es lange zuvor nicht mehr der Fall gewesen war. Und doch blieb immer alles im Gleichgewicht. Man kann das noch heute nachvollziehen. Welcher Beat warum wo sitzt, welcher Sound sich auf die Suche nach Andockmöglichkeiten begibt.

Christophe Stoll Nitrada Portrait

Christophe Stoll aka Nitrada. Foto: Veljko Tatalovic

Diese Herangehensweise gilt auch bei „Everything That Is Not Counted Will be Lost“, auch wenn die zehn neuen Tracks natürlich anders klingen, die Jetztzeit spiegeln. Der „Spirit“, wenn man sich auf diesen Begriff einlassen möchte, ist über weite Strecken verhaftet in einem ganz spezifischen Sound-Design: warm, hier und da leicht angezerrt, wuchtig und deep – ein Abbild der alles beherrschenden Melancholie der Stücke. „Your Language My Control“, der Opener der neuen Platte, hätte mit seinen undurchdringbaren Drums auch gut zu Depeche Modes „Ultra“ gepasst, von der Bassline ganz zu schweigen. Auch wenn das Arrangement Offenheit ausstrahlt: Hier ist kein Millimeter Raum und Luft zum Atmen, und das ist positiv zu verstehen. Es unterstreicht die Dringlichkeit des Albums. Die Tracks spielen mit vermeintlich bekannten Sounds und öffnen so die Tür zu Nitradas Klanguniversum. Was nicht nur elektronisch ist – auch nie war –, sondern Vocals genauso trägt wie akustische Instrumente und Elemente unbekannter Provenienz.

„Everything That Is Not Counted Will be Lost“ ist so zauberhaft wie verzaubernd. Genau an den richtigen Stellen unscharf, konkret und triggernd an anderen. So ist ein Album mit universeller Gültigkeit entstanden, das persönlicher und individuell deutbarer nicht sein könnte. Nitrada wacht mit seiner Musik über einen immer in Bewegung bleibenden Ozean, steuert umsichtig die Gezeiten, hält das Wetter in Schach. Das mündet nicht in Windstille, sondern gibt allen Sounds, Motiven und Ideen die Chance, sich zu entfalten und gehört zu werden. Damit all diese Elemente nicht den Elementen ausgesetzt sind. Damit alles gezählt werden kann und nicht verlorengeht.

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