Plattenkritik: Deaf Center – Reverie (Sonic Pieces)Ein Traum in krass

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Mit „Reverie“ meldet sich eines der wichtigsten Projekte der Schnittstelle zwischen Akustik und Elektronik fulminant zurück.

Beim Stichwort Deaf Center werde ich melancholisch. Die erste EP von Erik Skodvin und Otto A. Totland – „Neon City“ – erschien 2004 auf Type, einem Label aus Birmingham. Die Musik haute mich um. Ich war damals viel in England unterwegs, lernte die beiden Macher von Type – John und Stef – kennen und war fasziniert von dem Twist, den die beiden der Electronica-Welt verliehen. Und: Dieses eine Stück von „Neon City“ mixt sich einfach so wunderbar mit früher deutscher Hörspielkultur.

Nun hat das neue Album von Deaf Center mit Electronica rein gar nichts zu tun. Vielleicht gilt und galt das schon immer für das Projekt der beiden Norweger, und ich habe das die ganzen Jahre immer falsch verstanden bzw. einsortiert. Natürlich: Die Musik wurde mit der Zeit „strenger“ – ernsthafter, konzertanter. Die Solo-Piano-Platten von Otto sind mir treue Begleiter. Und die Musik von Erik – oft dark, spröde und vielschichtig-cinematisch – öffnet immer wieder meine Poren. Sechs Jahre haben die beiden keine gemeinsame Platte mehr veröffentlicht – „Low Distance“ ist tatsächlich schon so lange her. Nun kommt mit „Reverie“ ein Lebenszeichen.

Deaf Center live in Morphine Raum oktober 2024

Deaf Center: Otto A. Totland und Erik Skodvin im Morphine Raum, Berlin | Foto: Monique Recknagel

„Reverie“ ist der Mitschnitt eines Konzerts aus dem Oktober 2024 im Berliner Morphine Raum. Die 30 Minuten Performance sind so packend und mitreißend wie wochenlanges Arbeiten im Studio vielleicht nie sein könnten. Ottos Klavierspiel ist alles andere als leise. Er gleitet kraftvoll über die Klaviatur. Das klingt an manchen Stellen fast schon dramatisch emotional, weil deutlich lauter und angezerrter als von seinen Solo-Platten gewohnt. Und Erik baut mit Gitarre, Cello und Elektronik eine bizarr-vertraute und doch fremde Welt. Es ist diese Mischung, die Deaf Center 2025 so einzigartig macht. Und in den Filmstudios weltweit dazu führen müsste, ausgeblichene Adressbücher mit den Kontakten von Komponist:innen auf den Scheiterhaufen der Geschichte zu werfen und einen Neustart zu wagen.

„Reverie“ ist so fordernd und spontan wie überlegt und reflektiert. Ein Kaleidoskop, in dem sich die inhärente Schönheit immer und immer wieder bricht, aus dem Dreck der Schaltkreise mit noch mehr Dreck wieder aufgepäppelt wird und in vollkommen neuem Glanz erstrahlt. Zwischen Hallfahne, Distortion und Restgeräusch entsteht so ein kongenialer Entwurf, wie unsere Welt klingen könnte, müsste und sollte. Und ja auch tut. Manchmal. Laut und leise, hell und dunkel, „wohlklingend“ – was auch immer das heißen mag – und verstörend. Alles gleichzeitig. Immer im Gleichgewicht und natürlich mit ausgefahrenen Ellenbogen. „Reverie“ ist ein großes Werk der zeitgenössischen Musik. Balsam für die geschundene Gegenwart, vor allem aber wegweisender Stichwortgeber für die Zukunft, die porös und unvorhersehbar ihr omnipräsentes Testbild in Stellung bringt.

Clench fists.

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