Datenschutz und Automobil: eine toxische VerbindungUnderstanding Surveillance Capitalism | Teil 4
19.6.2025 • Gesellschaft – Text: Timo Daum, Illustration: Susann Massute
Am 11. Februar 1933 trat der neue gewählte Reichskanzler Adolf Hitler auf der internationalen Auto- und Motorradmesse IAMA auf. Bei seiner Rede prangert er die „kleinlichen Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen“ der Weimarer Republik an, die er als hinderlich für die Entwicklung einer automobilen Volksgemeinschaft ansah. Die Messe für das Automobil wird bis heute jedes Jahr als Internationale Automobilausstellung (IAA) veranstaltet, um eine entfesselte motorisierte Mobilität zu zelebrieren. Auch Hitlers Kritik an der Überwachung des Autofahrers lebte in der Nachkriegszeit in Westdeutschland weiter. So vom Allgemeinen Deutschen Automobilverein (ADAC), der heuer 22 Millionen Mitglieder zählt. Unter dem Motto „Kavalier am Steuer“ stemmte man sich gegen jede Gängelung durch Tempolimits, Sicherheitsgurte und sonstige Umtriebe, die die Freiheit des Automobilisten (62 Prozent der deutschen Autobesitzer sind männlich, daher die durchgehend männliche Form in diesem Text) einzuschränken drohten. Deutschland hat bis heute kein generelles Tempolimit auf Autobahnen.
Grund genug, einmal genauer zu schauen, ob „kleinliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen“ nicht eine genuin linke Forderung sein sollten – im Kontext von Verkehr und im Interesse der „schwächeren“ Verkehrsteilnehmer:innen.
Toxischer automobiler Datenschutz
Autos sind heute in der Lage, nicht nur die gefahrene Geschwindigkeit, sondern auch den genauen Ort und die gerade gültige Höchstgeschwindigkeit zu erkennen. Die üblichen Navigationssysteme – seien es die von den Autoherstellern angebotenen oder solche von Drittanbietern wie Google oder TomTom – haben eine genaue Kenntnis über gegenwärtiges Fahrverhalten und Verkehrssituation. Diese Informationen werden dem Fahrer meist in Echtzeit übermittelt. Die aktuelle Geschwindigkeit sowieso, aber auch – meist in Form von stilisierten Verkehrsschildern – die gerade gültige Geschwindigkeitsbegrenzung. Das Fahrzeug weiß also zu jeder Zeit, ob jemand zu schnell fährt.
Trotzdem ist Geschwindigkeitsüberschreitung allgemeine Praxis, mit tödlichen Folgen für viele Verkehrsteilnehmer:innen. Dennoch werden diese eigentlich verfügbaren Daten nicht dazu verwendet, Autofahrern eine regelkonforme Fahrweise anzuraten, geschweige denn aufzuzwingen, z.B. indem Warnsignale generiert oder die Geschwindigkeit abgeregelt würden. Erst recht nicht werden sie automatisiert übermittelt an Behörden, die die Verstöße offiziell registrieren und umgehend ahnden könnten. Das Fahrzeug, sein Kennzeichen und sein Halter sind ja gleichfalls bekannt.
Der gläserne Autofahrer wird womöglich noch automatisiert dauerbestraft? Für die meisten sicher eine Horrorvorstellung und eine fast schon Black-Mirror-mäßige Dystopie. Wer so denkt, hat den toxischen Autofahrerfreiheitsbegriff schon internalisiert. Dabei wäre eine solche Maßnahme sicher ein großer Schritt in Richtung Vision Zero. Die Anzahl der Verkehrstoten und Verletzten (ca. 1.000 Verletzte im Straßenverkehr in Deutschland täglich) würde zurückgehen, die öffentlichen Finanzen würden sich auch freuen und der CO2-Ausstoß zurückgehen.
Warum ist der Gesetzgeber so zögerlich, hier Regelungen einzuführen, die diese Daten im öffentlichen Interesse verarbeiten? Könnte nicht bei jeder Abweichung eine Nachricht an eine Behörde gesendet werden, die zu einem automatischen Bußgeld führt? Der Gesetzgeber kuscht hier vor der Autolobby und einer automobilen Gemeinschaft, die sich das niemals bieten ließe und ihr kollektives gemeinschaftsschädigendes Brutalo-Verhalten für erstes Menschenrecht hält.
Doch nicht nur die Autofahrergemeinde, auch die Datenschützer liefen Sturm gegen eine solche Praxis. Denn diese Daten sind Privatsache, ihre Erfassung grundsätzlich verboten. Im Straßenverkehr ermöglicht Datenschutz so eine toxische Praxis der Bessermotorisierten. Ähnliches gilt auch in vielen anderen Bereichen, wo Datenschutz zum Abwehrmechanismus von Privilegierten wird, die ihre anonyme Verantwortungslosigkeit ausleben. Der Daten-Bourgeois, der auf seinem Besitzrecht pocht, ist von der Tendenz her anti-sozial. Mobilitätsforscher Andreas Knie:
„Datenschutz ist in den letzten Jahren zu einem Synonym für hemmungslose Ichbezogenheit geworden. Im vermeintlichen Interesse des Allgemeinwohls ziehen hier die Ego-Shooter knallhart ihre Interessen durch.“
Daten in Autos als Quellen
Autos sind heute Datengeneratoren, die aus über einhundert Steuergeräten feuern. Fahrdaten, Lenkbewegungen, Kamerabilder, technische Motordaten etc. stellen eine Fülle an Daten dar, aus denen sich in der Tat leicht Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile generieren lassen: Tagesrhythmus, Bewegungsweise, emotionale Komponenten (vorausschauender oder abrupter Fahrer?), Körpergröße (Sitzeinstellungen), Anzahl an Mitfahrenden (Anzahl geschlossener Gurte), Telefonlisten, Musikgeschmack – you name it.
Wem gehören die Daten? Handelt es sich um personenbezogene Daten, dann ist die Gesetzeslage klar: der betreffenden Person, also dem Autobesitzer. Sie dürfen ohne gesetzliche Grundlage oder individuelle Einwilligung nicht anderweitig genutzt werden. Doch warum gibt es dann eine Debatte darüber, wem die Daten gehören sollen? Die Autohersteller wollen sie haben, die Digitalkonzerne auch?
Weil es zwei Ausnahmen gibt: Entweder erlauben gesetzliche Regelungen deren Nutzung (Option 1) oder der Betroffene (Fahrer/Halter) stimmt der Verwendung durch Dritte zu. Meist geschieht das schon beim Kaufvertrag oder bei der erstmaligen Nutzung von Software im Auto (Option 2). Da ist sie wieder, die unfreiwillig-freiwillige Einwilligung (siehe dazu auch der erste Text dieser Reihe)! Die Datenschutzperspektive ist hier wieder einmal eine, die das Eigentumsrecht des kleinen Mannes ins Feld führt. Und der kleine Datenbesitzer stimmt der Verwendung durch Datenhändler bzw. „Verantwortliche“ im Sinne des Gesetzes zu. Woraufhin diese damit machen können, was sie wollen. Etwa, wie im Fall von Tesla, ihre KI-Systeme für das autonome Fahren trainieren.
Der Staat überwacht nicht biopolitisch, sondern drückt beide Augen zu
Option 1 hingegen – das gesetzlich geregelte Teilen der Daten mit dem Staat, der Kommune oder anderen Behörden – ist verpönt. Der Gesetzgeber schöpft hier seine Möglichkeiten bei Weitem nicht aus. Bei uns wird nur punktuell kontrolliert, im Radio wird vor „Blitzern“ gewarnt, auch Alkoholtestgeräte sind keine Pflicht, ebensowenig die Auffrischung des Führerscheins wie in anderen europäischen Ländern. Behörden sehen sich schnell dem Vorwurf der „Autofahrerabzocke“ ausgesetzt, lückenlose Überwachung: Fehlanzeige. Zu schnell fahren wird so zur allgemeinen Praxis, zum allgemein akzeptierten Verhalten, zur gängigen Praxis. Wer sich penibel an die vorgeschriebene Geschwindigkeit hält, ist ein Verkehrshindernis. Und die Datenschützer sind ganz schnell auf dem Plan, wenn es um section control oder Parkraumüberwachung mit Kameras geht.
Fotos von falsch geparkten Fahrzeugen
Falsch geparkte Fahrzeuge gefährden und beeinträchtigen insbesondere Fußgänger:innen und Radfahrer:innen, Menschen mit mobilen Einschränkungen oder Personen mit Kinderwagen. Darf man ein Foto des Fahrzeugs machen und den Verkehrsverstoß den Behörden melden oder verstoße ich damit gegen den Datenschutz? Das Landesamt für Datenschutz Niedersachsen (LfD) stellt fest, dass es sich bei einem Kennzeichen um ein personenbezogenes Datum handelt und das Fotografieren des Kennzeichens damit eine Verarbeitung eines personenbezogenen Datums darstellt. Es bedarf also einer Rechtsgrundlage, z.B. muss ein berechtigtes Interesse nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. f DSGVO) vorliegen. Das LfD sieht dies bei der Anzeige von Ordnungswidrigkeiten durchaus gegeben, sofern eine Datenverarbeitung nötig ist, um das Fehlverhalten zu dokumentieren. Die Rechtspraxis und -auffassung ist aber keinesfalls eindeutig. Zuletzt haben z.B. Magdeburg und München Fotografierende sogar mit Bußgeldern wegen eines Verstoßes gegen den Datenschutz gekontert. Und das Bayerische Landesamt für Datenschutzaufsicht (BayLDA) erklärt, dass Fotografien von Kfz-Kennzeichen nicht ohne vorliegendes berechtigtes Interesse an Behörden weitergeben werden dürften. Aktivitäten von Betroffenen, die „allein darauf gerichtet sind, Beweismaterial zur Verfolgung von Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten zu liefern“, sind nicht hinreichend. Anders sieht es nach Ansicht der Behörde dann aus, wenn etwa eine eigene Einfahrt zugeparkt ist und somit eine privatrechtliche Besitzstörung vorliegt. Eine Rechtsauffassung, die die Besitzinteressen von Autobesitzer und Einfahrtbesitzer:innen gegeneinander abwägt, aber Fußgänger:innen und Radfahrer:innen nicht berücksichtigt. Einmal mehr zeigt sich, dass Datenschutz wie das Bürgerliche Gesetz überhaupt das Eigentum schützt und zwischen Interessen von Privateigentümer:innen vermittelt, aber nicht für sicheren Verkehr oder gerechte Flächennutzung zuständig ist.
Section Control
Bei Section Control – (Abschnittskontrolle) – wird die Durchschnittsgeschwindigkeit zwischen zwei Messpunkten berechnet. Der Streckenradar zeichnet kurzzeitig die Kennzeichen aller Fahrzeuge auf, die den betreffenden Abschnitt passieren, unabhängig von ihrer Geschwindigkeit. Liegt nach der Verlängerung kein Verstoß vor, werden die Daten gelöscht. Um den Anforderungen des Datenschutzes gerecht zu werden, wird verschlüsselt und anonymisiert. Dennoch hegten Datenschützer Bedenken, weil bei dem Messverfahren die Kennzeichen gescannt werden.
In Niedersachsen lief von Dezember 2018 bis Dezember 2020 ein Pilotprojekt auf einem rund 2,2 km langen Abschnitt der B6 nahe Hannover. Nach Bedenken seitens der Landesdatenschutzbehörde und einer Projektpause bestätigte das Oberverwaltungsgericht (OVG) die Rechtmäßigkeit von Section Control und erlaubte die erneute Inbetriebnahme. Die Anlage war erfolgreich: Die Zahl der Autofahrer, die sich an die Höchstgeschwindigkeit hielten, stieg um 40 Prozent. Auch andere Länder erzielen gute Ergebnisse, in Österreich sank die Zahl der Todesopfer in den Kontrollabschnitten um bis zu 50 Prozent. Ähnliche Zahlen werden aus der Schweiz, den Niederlanden und Großbritannien gemeldet.
Doch Anfang 2024 wurde die Anlage abgeschaltet. Obwohl die datenschutzrechtliche Grundlage gegeben war, entschied sich der Betreiber gegen eine Aufrüstung der Geräte: neue datenschutzrechtliche Vorgaben hätten eine verbesserte Verschlüsselung der Daten nötig gemacht. Auch sonst gibt es keine einzige Strecke in Deutschland, es ist auch keine geplant. Dem ADAC sind sie ein Dorn im Auge, der Lobbyverband warnt vor „Überwachung“ und stellt fest, es bestehe kein Bedarf für die Abschnittskontrolle, da für eine effektive Geschwindigkeitsüberwachung bewährte Messverfahren zur Verfügung stünden. Es ist also politisch gewollt, dass die Autofahrer nicht gegängelt werden sollen, die rechtliche Grundlage nicht ausgeschöpft wird. Mehr Geschwindigkeitsübertretungen, Unfälle und Todesfälle werden damit einmal mehr gesellschaftlich normalisiert. Der automobile Konsens gegen „kleinliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen“ ist wiederhergestellt.