Die TanzmaschinenBallett und Techno: Soraya Schulthess, Choreografin von DANCÆ, im Interview
3.12.2025 • Kultur – Interview: Matti Hummelsiep
Foto: Tobias Schult
Ballett auf 120 BPM? Die klassische Tanzform bekommt schon seit Längerem ein technoides Lifting. Soraya Schulthess mischt dabei als klassisch ausgebildete Ballerina mit ihrem noch jungen Projekt DANCÆ mit. Hier geht’s nicht um Modern Dance: Die Basis ist der so hart trainierte Danse d’École, Techno der Taktgeber.
Für das neue Projekt und als Teamleaderin castete die junge Frau ein professionelles Ballettensemble. Zusammen mit Senior Director Renato De Leon erarbeitet sie mit ihrem Ballet Sur_real, in dem sie selbst mittanzt, das Narrativ jeder Produktion.
Soraya Schulthess wurde in Zürich geboren und wuchs in Colorado auf. Mit 15 ging sie nach Berlin zur Staatlichen Ballettschule und lernte weiter in Sankt Petersburg. Eine Hüftoperation mit 28 durchkreuzte ihre Pläne einer Ballettkarriere und zwang sie zu einer langen Pause: „It was a blessing in disguise“, beschreibt sie diese Phase. Tschaikowskis „Nussknacker“ oder „Schwanensee“ tanzen? Dieser Traum war nie verloren. Im Gegenteil, dieses einschneidende Erlebnis gab ihr den finalen Push. Ein Jahr lang schraubte sie mit ihren Partnerinnen und Partnern an Idee und Struktur von DANCÆ. Vor einem Jahr gründete sie die Firma dahinter. Einer dieser kreativen Köpfe eben, die mit ihrer ganzen Erfahrung die Schwelle der Selbstverwirklichung überwunden haben und nun die ersten Früchte ernten. Ein Gespräch nach dem Training für die neue Show DANCÆ x Chlär über das liebe Geld, wie man eine Emotion tanzt und wie es sich anfühlt von der großen Opernbühne jetzt zwischen den Stühlen in alten Fabriken zu tanzen.
DANCÆ x Chlär ist ein choreografisches Gesamtwerk, in Zusammenarbeit mit BBA Gallery, die eine immersive Installation hinter der Bühne präsentiert. Im ersten Teil des Abends präsentiert Elizaveta Poliakova ihr Solostück „The Flag“. Technoid wird es danach mit dem Ballet Sur_real, dem offizielle Tanzensemble von DANCÆ. Zum raumfüllenden, harten Live-Sound vom jungen Schweizer DJ und Musikproduzenten schwebt das junge Ensemble leichtfüßig durch die alte Halle an der Berliner Arena.
Wie ist die Idee für DANCÆ entstanden?
Ich hatte schon während meiner Ballettausbildung häufig das Gefühl von einer unsichtbaren Wand zwischen Publikum und mir. Diese erschwerte eine echte Verbindung. Ich war ja lange verletzt und beschäftigte mich intensiver mit philosophischen und psychologischen Themen – und wie man diese durch Tanz vermitteln könnte. Vor etwa zwei Jahren wurde ich dann von dem Berliner Künstler Jonathan Applebaum eingeladen, bei einer Installation in seiner Galerie aufzutreten. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich die Idee, Installationskunst mit Tanz zu verbinden. Eine weitere Person im Team brachte außerdem den Ansatz ein, Ballett mit elektronischer Musik zu kombinieren. Wir wussten, dass das keine neue Idee ist. Wir fanden aber einen eigenen neuen Zugang dazu. So entstand schließlich das Konzept, im Ballett elektronische Musik und Installation Art zu einer gemeinsamen Performance zu verschmelzen.
Im September fand eure letzte Show in einer alten Fabrik im Norden Berlins statt. Inhaltlich ging es ums Dating – um Liebe in digitalen Zeiten der Konsumgesellschaft. Es geht euch also nicht nur um eine nette Show?
Absolut. Die Shows haben immer eigene Themen. In unserem Stück vom Sommer ging es zum Beispiel um die Struktur der Jung’schen Archetypen, also dem kollektiven Unbewussten. Es geht uns dabei aber nicht um ein klassisches Handlungsballett. Unsere Produktionen sind deutlich abstrakter, aber dennoch trägt jedes Stück eine eigene narrative Linie in sich.

Soraya Schulthess
Worum geht es in der aktuellen Show im Haus der Visionäre?
Im Kern geht es um Technologie und unser Verhältnis zu ihr – insbesondere um Künstliche Intelligenz und mögliche Zukunftsszenarien. Uns ist dabei wichtig, keine klare Position abzugeben. Weder wollen wir sagen, dass KI alles besser oder schlechter machen wird. Noch wollen wir ein Weltuntergangsszenario zeichnen. Stattdessen möchten wir das Thema offenhalten und vor allem zeigen, wie Künstliche Intelligenz bereits jetzt mit uns interagiert und welchen Einfluss sie auf uns hat.
Du leitest nun ein Team und bist quasi Unternehmerin. Hast du dich in der Richtung fortgebildet?
(lacht) Oh Gott, nein. Ich lerne eher jeden Tag dazu. Neben dem Choreografieren und Performen gibt es also eine geschäftliche Seite, Aufgaben, die man einfach lernen und übernehmen muss. Für unsere Produktionen arbeiten wir aber auch mit weiteren Personen zusammen. Wir haben in der Regel auch eine Producerin oder einen Producer, die uns bei vielen organisatorischen Aufgaben unterstützen. Dazu gehören zum Beispiel auch Dinge wie Steuern oder Finanzplanung. Man lernt eben im Prozess und erkennt mit der Zeit, was man gut kann und was nicht. Ich mache definitiv Fehler. Alles andere hingegen, wie E-Mails schreiben, Konzepte entwickeln, mit Tänzerinnen und Tänzern sprechen oder Probenpläne organisieren, bekomme ich gut hin und fühle mich darin kompetent. Aber letztlich geht es nur über Learning by Doing.

Foto: Tobias Schult
Können Tanzprojekte politisch sein?
Auf jeden Fall. Mich persönlich reizt das aber nicht so sehr. Mich interessiert eher die menschliche Existenz an sich, also warum wir tun, was wir tun. Dennoch gibt es viele Projekte und Choreograf:innen, die sich intensiv mit politischen Themen auseinandersetzen.
Gibt es Emotionen oder Themen, die man nicht auf die Bühne bringen kann?
Es gibt definitiv Dinge, die sehr schwer auf die Bühne zu bringen sind. Durch den performativen Charakter des Tanzes gehen feinere Nuancen oft leicht verloren. Man sollte also nicht zu extrem oder zu theatralisch werden – etwa wenn eine Szene wütend ist und alle dann einfach nur wütend spielen. Eine Arbeit mit echter Tiefe zu versehen, ohne dabei zu überzeichnen, oder im Gegenteil zu wenig Ausdruck zu zeigen: Das ist eine echte Herausforderung. Speziell bei Emotionen ist es so, dass das Publikum zu fein dargestellte gar nicht mitbekommen würde. In Schrift oder Musik lassen sich bestimmte Schattierungen manchmal einfacher transportieren. Tanz ringt stärker darum, diese Feinheiten sichtbar zu machen.
Du hast anfangs von der unsichtbaren Wand gesprochen. Ich stelle mir die Interaktion mit dem Publikum sehr herausfordernd vor.
Das muss man definitiv lernen. Für viele Tänzer:innen, die aus traditionellen Opernhäusern kommen, war es anfangs einschüchternd oder überwältigend in direktem Kontakt mit dem Publikum zu stehen. Deren Gesichter zu sehen, ihre Reaktionen unmittelbar wahrzunehmen. In unseren Produktionen ist die Bühne oft mitten im Raum aufgebaut, das Publikum sitzt rundherum, und das kann anfangs sehr verwirrend sein. Mit der Zeit gewöhnt man sich jedoch daran. Diese Arbeitsweise kann unglaublich bereichernd sein. Für mich ist es außerdem sehr spannend, mit der Architektur eines Raumes zu arbeiten. Die klassische zweidimensionale Bühnensituation empfinde ich dagegen oft als limitierend. Dort muss ein Stück extrem fesselnd sein, damit das Publikum nicht gedanklich abschweift – was in vielen Fällen schlicht nicht gelingt. Deshalb interessiert mich die Frage, wie man den Raum auf interessante Weise nutzen kann, um eine intensivere Verbindung zu schaffen und dafür zu sorgen, dass das Publikum wirklich im Geschehen bleibt.
Wie findet ihr eure Pop-up-Locations?
Im Frühjahr haben Renato de Leon und ich viel Zeit damit verbracht, geeignete Orte zu finden. Darauf aufbauend haben wir unseren Jahresplan erstellt. Das war schwierig, weil viele Räume stark auf Corporate-Events ausgerichtet sind und entsprechend „fertig“ oder standardisiert wirken. Außerdem spielt Geld eine Rolle. Viele großartige Locations wie etwa das Kraftwerk sind extrem teuer zu mieten. Trotzdem hatten wir Glück und fanden tolle Orte. Das Haus der Statistik war sehr unterstützend, auch das Haus der Visionäre ist ein fantastischer Raum für unsere Aufführungen. Nächstes Jahr wollen wir auf Tour gehen und auch außerhalb Berlins passende Locations finden. Wir haben inzwischen vier abendfüllende Stücke entwickelt und damit wollen wir rausgehen.
Lässt sich damit Geld verdienen?
Das erste Jahr war ziemlich herausfordernd, weil die Produktionskosten am Ende meistens genauso hoch waren wie die Einnahmen aus den Tickets. Für das kommende Jahr wollen wir das unbedingt ändern und uns breiter aufstellen, längerfristige Finanzierungsquellen finden – sowohl öffentliche Fördermittel als auch private Unterstützung. Damit das Projekt nachhaltiger wachsen kann.

Foto: Anna Vialova
Ballettaufführungen sind in der Regel teure Veranstaltungen. Wie geht ihr damit um?
Es ist schon hart, besonders in Berlin. Die Menschen hier sind nicht bereit, jeden Preis zu zahlen. Die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, viele Menschen gehen kaum noch aus. Unsere Produktion hat einen bekannten Produzenten, eine Kunstinstallation und ein abendfüllendes Ballett – der Ticketpreis liegt bei 39 Euro, was meiner Meinung nach fair ist. Trotzdem empfinden manche Leute das bereits als zu teuer. Ein niedrigerer Preis für Jugendliche oder sehr junge Besucher ist bei uns einfach nicht machbar, da die Kosten für die Produktion sonst nicht gedeckt werden könnten.
Das trifft auch auf andere Kultursparten in Berlin zu. Viele unterstützen die Kulturszene theoretisch und bejahen sie. Es herrscht in Berlin aber ein gewisser Geiz, wenn es ums Bezahlen geht. Kultur kostet Geld.
Und dann möchten alle auf die Gästeliste. Bei uns gibt es gar keine Liste, die wäre einfach nicht fair. Als Zuschauer:in sieht man nicht, wie viel Arbeit hinter einer Produktion steckt. Zum Beispiel die Beleuchtung: Es wirkt wie ein paar Lichter und ein Techniker, dabei steckt dahinter unzählige Stunden Arbeit, das Mieten von Lichtern, Bänken, Podesten, Transport, Versicherung. Das ist sehr viel Geld. Wenn man selbst Veranstaltungen organisiert, merkt man erst, wie viele Menschen man bezahlen muss. Hinter einer Produktion arbeiten fast 25 bis 30 Personen, zusätzlich zu den Tänzer:innen. Jeder muss für seine Arbeit entlohnt werden, für das Grafikdesign, Ton, Location, Lizenzen – die Liste ist endlos.
Tanzen ist heute dein Beruf. Hat sich da Verhältnis zum Tanzen selbst für dich verändert?
Ich habe immer noch dasselbe Gefühl dabei wie als Kind. Meine Verletzung hat das noch verstärkt, weil ich den Tanz jetzt viel mehr zu schätzen weiß. Ich habe nun als Choreografin auch mehr Verantwortung. Dadurch ist es ist manchmal schwierig, mich ganz auf meinen eigenen Körper zu konzentrieren. Es fühlt sich fast so an, als hätte man einen geteilten Fokus. Trotzdem liebe ich es wirklich. Es ist ein großes Geschenk, jeden Tag ins Studio gehen zu können, mich zu bewegen, kreativ zu sein und diese ganze Plattform als Spielplatz zu erleben. Ich kann ausprobieren, was ich will, einfach machen. Diese Freiheit empfinde ich als sehr wertvoll und bin dafür sehr dankbar.
Das klingt, als wären Tänzerinnen und Tänzer glücklichere Menschen …
Haha, genau. Wir haben den Schlüssel zum Glück gefunden. Nein, im Ernst. Tanz ist nicht gleich tanzen. Ich habe viele Situationen erlebt, in denen ich dachte, dass ich das nicht mehr machen möchte. Aber es gab auch fantastische Momente. Tanzen bedeutet nicht immer nur Spaß und happy sein. Doch tief in mir drin weiß ich, dass tanzen für mich bereichernd ist.








