Hängengeblieben 2025Unser großer Jahresrückblick

Hängengeblieben 2025

2025 isch almost over. Während man das Gefühl kaum noch los wird, immer mehr in einen Strudel, eine galoppierende, sich überschlagende und wiederholende Geschichte zu geraten, richten wir den Blick – wie in den Jahren zuvor – auf die Ränder und das persönlich hängen Gebliebene. Unser Jahresrückblick.

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Jan-Peter Wulf

Bernstein

Bernstein

Foto: Thaddeus Herrmann

Wenn der Himmel Goldstaub pustet, die Enten am Bootsanleger Backgammon spielen und die Tannennadeln auf der Tischtennisplatte das Match entscheiden, ist Brandenburg plötzlich Idyll. Ohne Unionfahnen in den Vorgärten, ohne kurzhosige Troublemaker am Bahnhof, ohne schlafraubende Wahlergebnisse. Und wenn man mit dem Fahrrad dann abends über die Dörfer gurkt und in jedem Krug einen Krug nimmt und die draußen schnabuliert, dann merkt man schnell, dass Brandenburg eben nicht nur wegen der Wochenendhausbesitzenden aus Berlin immer mehr zu Berlin wird, sondern Probleme einfach Probleme sind. Mit dem Krug in der Hand vor dem Dorfkrug gesellte sich schnell Manfred zu uns. So druff, dass er im Golden Gate glatt eine Zehnerkarte für alles für umme bekommen würde. Wohnt auf der Wiese gleich nebenan, sagt er. Wird verfolgt von der Stasi und der katholischen Kirche, sagt er. Hat Probleme, Gras auf dem Dorf zu organisieren, sagt er. Und ob wir die leere Flasche noch brauchen würden, fragt er. Rollt, die Welle.

Thaddeus Herrmann

Biennale

Biennale

Foto: Thaddeus Herrmann

Venedig, Mitte Oktober. Mit journalistischer Beauftragung bin ich zum ersten Mal überhaupt in der Stadt. Die Biennale Musica ist der Teil des jährlichen Kulturprogramms, den viele gar nicht kennen. Dabei ist die Tradition lang und der Goldene Löwe auch in der Musikwelt eine gern genommene Trophäe. 2025 (und 2026) kuratiert Caterina Barbieri, und es weht ein Hauch der Berliner Schwarzkittel-Traditionen an den Selfie-Sticks auf dem Markusplatz vorbei. Das Programm? Über alle Zweifel erhaben, eh klar. Basinski, Ciani, Rafael Toral, Moritz von Oswald, Carl Craig, Fennesz („Venice“. In Venice!). Viel besser, weil beeindruckender, ist es zu erleben, wie Kultur in Venedig funktioniert. Da schmettern Noiser:innen ihre Sounds gegen die Wände alter Fabrikhallen, es ist irre laut und die verteilten Ohrstöpsel irre schlecht, und in diesem Szenario sitzen alte venezianische Kulturbürger:innen in Daunenjacken auf Klappstühlen und machen sich Notizen. Zur Veränderung der Welt vielleicht, zum Wandel in der Musik und dazu, was das eigentlich bedeutet, solche Performances im Rahmen des ehrwürdigen Festivals in der ehrwürdigen Stadt, in einem Land, in dem das Ehrwürdige ob Meloni vielleicht bald verschwinden oder mindestens noch mehr unter Druck geraten könnte. Ein Statement im Trockeneis der Gemäuer.

Thaddeus Herrmann

Die Kuh

Aktuelle Studien zeigen, dass eine Kuh bessere aerodynamische Werte hat als ein Jeep Wrangler – so erzählt es mir zumindest mein Instagram-Account. Die Beschäftigung mit diesem wertvollen Inhalt darf munter in meinem Schädel Gummiball spielen; die ge-screenshottete Aufnahme zur entsprechenden Beweislage veröffentlichen wir hier aus rechtlichen Gründen allerdings besser nicht. Ob privat oder im Netz: Jeder darf ungestört an meiner Aufmerksamkeit reiben, ohne entsprechende Reaktionen befürchten zu müssen. Zumindest sehe ich das für mich so. Meiner gesegneten Umwelt allerdings unterlaufen solche groben Fehleinschätzungen nicht – im Gegenteil.

Selbst dem US-amerikanischen Präsidenten, dem Tüchtigen, gelingt es nicht, seine demokratiestürmerische rote Lockenpracht in alles tunken zu dürfen, was ihm nach der unsauber notierten Verfassung von Amts wegen alles zusteht. Und wenn der kräftigste Mann der Welt schon nicht mehr ausfegen darf, was ihm nur recht und billig ist – was sagt uns das zu eben jenem Stand der Demokratie? Genau.
Ein Jeep Wrangler benötigt verdammt noch mal nun mal keine Windkanaloptimierung – wehre den Anfängen! –, denn er steht ja schließlich nicht oben auf der Alm, um körperlich optimiert Methan in ebenjenen Wind zu entlassen, der zärtlich diese Anmut umstreift. Und so bleiben wir hängen an der unerschütterlichen Widrigkeit unserer inneren Eiger-Nordwand, zupfen und zerren die Untaten der anderen durch unser wutbereites Gemüt, nur um uns unentwegt zu wundern, dass dies den Aufstieg zu unserem eigenen Gipfel eigenartigerweise deutlich erschwert.

Und für all jene, die Texte nur querlesend überstreifen: Nein, hier wird nicht behauptet, eben jener Präsident sei eine Kuh – auch wenn er sich anmaßt, auf jeden und alles zu furzen, was seinen Weg zu wagen kreuzt.

Martin Rabenstein IRR

der 8 oktober

Eva Illouz – Der 8. Oktober (Suhrkamp, 2025)

Der Tag danach und die traumatische Enttäuschung, „Insult to Injury“ wie es im Englischen heißt. Statt Empathie und Mitgefühl für die Opfer des mörderischen Überfalls der Hamas auf Israel gab es international von Seiten vieler nominell Linken im besten Fall Schweigen, oder sogar Häme und Applaus für die exzessive Brutalität. Alles im Namen einer sich emanzipativ, postkolonial und antirassistisch verstehenden Ideologie. Eva Illouz, die immer zu den ausgesprochenen Kritikern der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern zählte, empfand diesen Schock, des sich-nicht-mehr-wieder-Erkennens in den vermeintlichen Verbündeten besonders erschütternd und versucht in ihrem Essay „Le 8-Octobre“ diesen Verrat an den eben schon lange nicht mehr geteilten, gemeinsamen Prinzipien von Humanität und Universalismus zu Begreifen. Die Fakten, die historischen Entwicklungslinien, die ideologischen, psychologischen wie soziologischen Aspekte dieser lange schleichenden und dann eben dramatisch ausbrechenden Entwicklung eines neuen Antisemitismus sind in anderen Büchern, von Bruno Chaouat, Ingo Elbe, Yascha Mounk und Thomas Chatterton Williams, ausführlicher und in Teilaspekten vertieft. Illouz große Errungenschaft besteht darin die wichtigsten Fakten höchst stringent in einem sehr kurzen und sehr verständlichen, und angesichts des Themas erstaunlich wenig polemischen Text zusammenzufassen. Ein extrem wichtiges Buch in 2025.

Frank Eckert

Fatigue Fatigue

Die Gesellschaft der deutschen Sprache hat das Wort KI-Ära zum Wort des Jahres gekürt. Im Alltag habe ich das Wort nie gehört. Anders beim Wort des Jahres in den USA vom Wörterbuchverlag Merriam-Webster: Slop. Oder auch das Wort des Jahres beim Oxford Dictionary: Ragebait. Letztlich sagen alle mehr oder weniger das Gleiche. Wenn Donald Trump sich in Slop-Videos als Kampfjet-Pilot inszeniert, um Tonnen von Fäkalien auf Demonstrierende zu bomben, dann ist das KI-generierter Ragebait. Also Content, der darauf ausgelegt ist, bei möglichst vielen möglichst viel Wut zu triggern. Was Teil der Strategie ist, denn wer Wut produziert, der lebt auch mietfrei im Gehirn der Menschen und verdrängt den Blick fürs lösungsorientierte Wesentliche, was mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Wenn das Weiße Haus im Studio-Ghibli-Design seine ICE-Abschiebungen feiert, dann macht das ebenfalls wütend, aber auf die Dauer macht das vor allem müde. Man wird müde davon, an so vielen Orten nur noch minderwertige KI-Bilder und -Clips zu sehen. Man wird müde davon, sich wieder ärgern zu wollen, wenn die Berliner CDU KI-Weihnachtskarten in Friedrichshain-Kreuzberg verschickt, um gegen die vermeintlich unsägliche Pollerpolitik des vermeintlich linksgrünversifften Mainstream zu treten, anstatt die eigentlichen Probleme im Kiez zu adressieren. Geschweige denn besinnliche Feiertage zu wünschen.

Man ist müde, sich über Friedrich Merz’ Stadtbild-Aussagen aufzuregen. Man wird auch müde davon, auf sozialen Medien unterwegs zu sein und nichts mehr glauben zu können, weil könnte ja erstmal KI sein. Oder wenn Menschen etwas erschaffen und zuallererst der Vorwurf im Raum steht: Das ist zu gut, das ist doch KI. Weil so auf allen Ebenen des Miteinanders das Misstrauen geschürt wird. Wenn auf Spotify täglich mehrere zehntausend KI-Songs veröffentlicht werden und niemand mehr unterscheiden kann, was echt ist oder nicht, dann macht das ebenfalls träge. Genauso ermüdend ist die Reaktion einiger, die ihre Spotify-Abos kündigen und nun anfangen, ihre Musik auf Suno oder Udio selbst zu prompten und das als kreativen, „empowernden“ Akt verstehen. Wenn das Vertrauen in die Grundprinzipien der Gesellschaft, Kunst und Kultur bröckelt – und das passiert derzeit auf vielen Ebenen, dank KI-Ära, Slop und Ragebait–, dann bleibt vielen nur der Rückzug ins Private. Das ist eine natürliche Reaktion und die Folge ist: Alle werden müde, müde zu sein. Man leidet kollektiv an Fatigue Fatigue, mit Verdruss und gezuckten Schultern wird nur noch kommentiert: „Was willst du machen? Bringt doch alles nichts.“ Wenn KI eben offenbar nicht die Welt rettet, sondern uns derart in einer quasi selbst geschaffenen Lawine untergehen lässt, so dass wir wie gepuckte Babys nur noch an die Decke starrend am Schnuller nuckeln. Dann verlieren wir auch unsere Mündigkeit.

Ärger empfinden und konstruktive Wege zu finden, dem Ärger Luft zu machen, kann helfen. Dafür muss man aber wissen, worüber man sich aufregt. Oft tritt heute nur noch ein tumbes resigniertes Gefühl ein. Aber: Autoritarismus lebt von Ohnmacht. Und es scheint immer schwieriger, handlungsfähig zu bleiben. Weil wenn auch noch wie derzeit unzählig viele Jobs durch KI-Rationalisierung auf dem Spiel stehen, dann müssen „die da oben“ Wege aus der Misere finden. Und mit die da oben sind nicht nur Regierungen gemeint, sondern auch die Mächtigen bei Palantir, Amazon, Meta, Microsoft und Google. Fragt man ChatGPT, wie man aus dieser Misere wieder herauskommt, lautet die „nüchterne Ermutigung“: „Sie müssen nicht optimistisch sein, heroisch handeln oder alles richtig machen. Es reicht, nicht innerlich zu kapitulieren.“ Wie dystopisch, wenn nicht gar gefährlich solche Aussagen sind. Weil genau das reicht offensichtlich nicht, sonst wären wir nicht da, wo wir heute angekommen sind. Und bei vielen Menschen ist ChatGPT heute schon der allerbeste Freund und es werden von Tag zu Tag mehr. Das macht nicht nur müde sondern auch mutlos und traurig.

Ji-Hun Kim

Flüsterasphalt

Offenporiger Asphalt (OPA) zeichnet sich durch einen hohen Hohlraumanteil von bis zu 25 Prozent aus. Er funktioniert wie ein Schalldämpfer: Die Reifenabrollgeräusche werden in den Poren geschluckt, anstatt reflektiert zu werden. Zudem kann die Luft zwischen Reifen und Fahrbahn in die Zwischenräume entweichen, was das typische „Zischen“ verhindert. Auf der teuersten Autobahnstück Deutschlands, dem Bauabschnitt 16 der Berliner A 100, wurde er gelegt und was soll ich sagen: Er flüstert wirklich. Steht man über der Straße, hört man fast nüscht, als würde man sich Ohropax in jede Körperöffnung gesteckt haben. Das Problem: sauteuer, kürzere Lebensdauer. Irgendwie müssen die 200.000 Euro ja zustande kommen, die die Autobahn gekostet hat. Pro Meter.

Jan-Peter Wulf

Görlitzer Park Hängengeblieben 2025

Alltag in Kreuzberg | Foto: Das Filter

Görlitzer Park

Die Berliner Politik ist offenbar ein Fan der Fantasy. Oder der Satire. Anders ist die Posse um den Zaun am Görlitzer Park nicht mehr zu verstehen. Ginge es nach Tolkien, könnte das Motto heißen: „Ein Zaun, sie zu knechten, sie alle zu finden / Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden“. Law and Order im berüchtigsten Park Deutschlands, das ist das Credo – wenn es denn wenigstens so wäre. Der Zaun wurde dieses Jahr nach zäher Vorbereitungszeit errichtet, wenige Teile fehlen noch, wenn auch in der Zwischenzeit ein Drehkreuz geklaut wurde. Wobei man fragen muss: Wie geht das? Und was macht man mit so einem riesigen Drehkreuz? Auf Kleinanzeigen verkaufen? Nun wurde aber bekannt, dass der Park bis März 2026 trotz des fast fertig gestellten Umzäunung offen bleiben soll. Dabei wissen Anrainer, Polizei und Politik, dass der Winter die schwierigste Zeit für den Kiez ist. Wenn Konsumierende in ihrem Elend Türen eintreten, Unrat in Fluren hinterlassen, Crack mit Bunsenbrennern aufkochen und damit Hausbrände riskieren (wie schon am Lausitzer Platz geschehen) oder man auf dem Weg zur Kita erst über drei schlafende Menschen steigen muss, die nicht reagieren, um mit Kind auf dem Arm zum Fahrrad zu gelangen. Wollte der Zaun nicht beweisen, dass er die Lage entspannen kann? Daran glauben natürlich die wenigsten und dass es sich nur um Symbolpolitik handelt, scheint kein Geheimnis.

Aber auch die Befürworter und Sponsoren des Zauns im Berliner Senat scheinen nie wirklich daran geglaubt zu haben. Denn nun kommt man mit dem Argument um die Ecke, dass der Zaun deshalb offen bliebe, damit Radfahrende diesen Winter keine unnötigen Umwege fahren müssten. Ja, wow! Das fällt jetzt erst ein? Plant Berlin etwa binnen der nächsten drei Monate eine Fahrradhochtrasse über den Park zu bauen? Oder gar eine Magnetschwebebahn? Wie sollen diese nächtlichen Umwege sonst umgangen werden? Mit einem freundlich einladenden Tunnel, der unter den Park führt? Wenn schon Geld verbrannt wird, dann doch wenigstens mit Würde und Konsequenz. So vergeht ein weiteres Jahr ohne evaluierbare Erkenntnisse und die Pläne, dass nun zusätzlich mit KI-„Verhaltensscannern“ der Park überwacht werden soll, bringt selbst die magersten Phrasenschweine zum Bersten. Interesse an nachhaltigen Lösungen sieht anders aus. Und die liegen weder in Bullshitbingo-KI noch in Abschottung. Mittlerweile glauben einige in der Nachbarschaft, dass das alles Teil einer Strategie ist, die Stimmung unnötig aufzuheizen, um den Unmut der Bürger:innen direkt an die Dealer- und Konsumierenden-Szene zu richten. Mistgabeln, Bürgerwachen und Fackeln in Kreuzberg? Na dann: Gute Nacht. Und Danke für Nichts.

Ji-Hun Kim

haiku

Haiku für 2026

Nach vorne zu schauen ins Ungewisse fällt schon einmal wesentlich leichter mit dem seit mehr als zehn Jahren erscheinenden Japanischen Taschenkalender, der in haptischen Leineneinband gebettet das deutsche Kalendarium von jahreszeitgemäßen Haiku begleiten lässt, meist von Matsuo Bashô oder Schülern. Zudem feine Reproduktionen von Ukiyo-e Holzschnitten zum entsprechenden Thema. Es relativiert ganz simpel den ganzen Alltagswahnsinn in fragiler bis derber Schönheit in Text und Bild.
Imma Klemm (Hg) - Japanischer Taschenkalender für das Jahr 2026 (Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, 2025)

Frank Eckert

I‘m rich, bitch!

Als Ulf Poschardt im Juli beim Podcast „Hotel Matze“ verkündete, dass Deutschland nicht mehr Gleichheit, sondern mehr Ungleichheit benötige, rang selbst der als wenig konfrontativ geltende Moderator Matze Hielscher mit der Fassung und hätte vermutlich am liebsten geantwortet: „Glaubst du den Scheiß eigentlich selbst, den du da erzählst?“ Ob es sich bei Poschardts Debattenbeiträgen um reines Getrolle handelt oder ob die Vehemenz im Vortrag am Ende ausreicht, um den Absender selbst von ihrem Inhalt zu überzeugen, kann nicht abschließend geklärt werden. Aus küchenpsychologischer Perspektive könnte man jedoch vermuten, dass der erfahrene Journalist es nicht wirklich ernst meinen kann, wenn er nach dem Besuch des „Hoss & Hopf“-Podcast davon spricht, dass es sich bei diesem um einen sehr guten Podcast handele, wenn er das Rasen auf der Autobahn zum ultimativen Ausdruck individueller Freiheit erklärt oder wenn er Deutschland, welches eben noch Friedrich Merz zum Bundeskanzler gewählt hat, als eine links-woke Shitbürgerrepublik beschreibt, in welcher er seine freie Meinungsäußerung gefährdet sieht. Nicht zu vergessen: Er ist Herausgeber von Welt, Politico und dem Business Insider sowie Dauergast bei Welt TV.

Poschardts Selbstinszenierung als gesellschaftlicher Außenseiter ist ebenso verlogen, wie seine Verweise auf seine kritischen Auseinandersetzungen mit der Politik der AfD in seinen Welt-Kolumnen, als wäre ihm nicht bewusst, dass die süffisanten Verunglimpfungen seiner politischen Feindbilder in den sozialen Medien Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten sind und ein Vielfaches an medialer Aufmerksamkeit erzielen. Melanie Amann traf daher den Nagel auf den Kopf, als sie am Ende ihres Streitgespräches mit Poschardt erbost schlussfolgerte, dass es sich bei seinem öffentlichen Gebaren um einen Fall von Wohlstandsverwahrlosung handele.

Tim Schenkl

K-Food

Dass man mittlerweile koreanische Instant-Nudeln und Zutaten wie Doenjang, Gim und Gochujang in fast jedem Rewe und Edeka findet, hätte ich mir vor zehn Jahren im Traum nicht ausmalen können. Einerseits erfüllt das einen mit peinlichem Stolz. Peinlich, weil: Worauf soll man hier bitte stolz sein? Aber wenn man als Kind damit aufgewachsen ist, dass die Mitmenschen in den 80ern und 90ern in Deutschland eher die Nase rümpften, wenn sie braune, klumpige Massen wie die Sojapaste Doenjang rochen und sahen, dann spricht das auch für eine gewachsene Akzeptanz – wie das auch immer verortet sein mag. K-Food boomt weltweit, und der Grund dafür sind Kulturexporte wie K-Pop und vor allem K-Dramas. Dieses Jahr war die Animation „K-Pop Demon Hunters“ einer der erfolgreichsten Filme des Jahres. Und auch hier werden Gimbap und Ramyun mit Inbrunst gegessen.

Das beweist, dass die südkoreanische Kulturpolitik der „Hallyu“ auch deshalb gut funktioniert, weil sie es nicht bei der Kultur belässt, sondern Stück für Stück auf andere kommerzielle Bereiche wie Kosmetik und eben auch Food erweitert. K ist eben auch zum Lifestyle geworden. Neulich sah ich eine Dokumentation über Gimbap, in der ein älteres französisches Paar dabei gezeigt wird, wie sie Reis und Gemüse in Seetang rollen. Wie der Boomer-Mann erklärt, dass das Äquivalent in Frankreich ja ein mit gesalzener Butter und Schinken belegtes Baguette sei und wie viel gesünder und nahrhafter doch Gimbap im Vergleich dazu sei. Das war schon rührend, vor allem, wenn so etwas aus jenem Land kommt, das den Alleinstellungsanspruch auf gute Kulinarik doch bis zum Armageddon abonniert hat. Ein Kind eines Freundes von mir sprach mich vor einiger Zeit darauf an, dass es nun Koreanisch lernen wolle. Wo das am besten ginge, auch weil die allermeisten Sprachkurse restlos ausgebucht sind. Man könnte sich fragen, ob was Ähnliches geklappt hätte, hätten Länder wie Deutschland vor Jahren intensiver auf Kultur statt auf Autos und Rheinmetall gesetzt. Softpower statt Schwerindustrie. Aber: Kultur ist halt auch eine Frage des Geschmacks und Stils.

Ji-Hun Kim

Knorr, Steuern mit Lust und Liebe

Das bayerische Finanzamt durfte sich im Frühjahr über einen wahren Geldsegen freuen: Fast vier Milliarden Euro mussten die Erben des 2021 verstorbenen deutschen Industriellen Heinz Hermann Thiele dem Fiskus überweisen, mutmaßlich ist es die höchste Einzelzahlung dieser Art in der Geschichte Deutschlands. Thiele war zeitlebens unter anderem durch sein Anteile am Zulieferer-Unternehmen Knorr-Bremse zu einem enormen Vermögen gekommen, die verzankten Nachkommen hatten es nicht rechtzeitig auf die Reihe gekriegt, dieses in eine geplante Stiftung zu stecken. Was nur zeigt, was möglich ist, wenn derartige Möglichkeiten, Steuern zu entgehen, gekappt werden. Ohne eine Reformierung der Erbschaftssteuer werden solche Fälle Ausnahmen bleiben, solche Zahlungen müssen aber zur Regel werden – vier Milliarden sind fast ein Prozent des Bundeshaushalts. Es gibt zurzeit rund 170 Milliardäre in Deutschland.

Jan-Peter Wulf

Krönung

Es war eine der ikonischen Szenen, die dieses Jahr über die Bildschirme flackerte. FIFA-Präsident Infantino überreichte dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump den sogenannten Friedenspreis im Rahmen der WM-Auslosung für das Turnier im nächsten Jahr. Der Preis sei extra für Trump geschaffen, heißt es. Eine goldene Weltkugel nach der ebenso vergoldete Hände zu greifen scheinen. Welch passendes Design! Ob es weitere Kandidaten gab und nach welchen Kriterien dieses Schmuckstück verliehen wurde, ist nicht bekannt.

An Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten, schnappte sich Trump die dazugehörige Medaille vom Tablett der versteinert lächelnden Hostess gleich selbst und hing sie sich um den Hals: „Fantastic, excellent“, goutierte der FIFA-Präsident mit Beifall diese Aktion und zückte sein Handy für ein Selfie mit Trump. Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie gesehen, dass sich ein Mensch bei einer Medaillenvergabe die Auszeichnung selbst umhängt. Zu toppen war dies nur noch mit einem peinlichen Auftritt von Village People, die in ihrem Look aus Indianer, Cowboy und Polizist schon damals peinlich aussahen. Fußball ist lange schon nicht mehr nur ein Spiel. Es ist die bedeutendste und deshalb auch lukrativste Sportart der Welt, die nächstes Jahr die WM-Stadien zu einem nicht geringen Teil mit VIPs füllen wird, die weder den Mittelkreis kennen, noch dass sie jemals die Liebe zum Sport nachempfinden konnten. Da muss der normale Fan tief für in die Tasche greifen, sofern er amerikanischen Boden überhaupt betreten darf. Als wäre das noch nicht genug, feiern die USA mitten im Turnier, am 4. Juli 2026, auch noch ihr 250-jähriges Bestehen. Ein Zufall? Mit Geld kann man sich (fast) alles kaufen.

Matti Hummelsiep

Lanthimosismus, Östlundisierung, Asterfizierung

„Bugonia“ war ein sehr solider Film, weil er als Adaption eines anderen Films gar nicht den üblichen Gesetzen eines regulären Giorgos-Lanthimos-Films folgt: Eine schräge Story schreitet sehr geradlinig voran, und am Ende steht ein vorhersehbarer und blödeliger Twist beziehungsweise eine konsequente Auflösung des Grundkonflikts – per Knopfdruck wird die Menschheit ausgelöscht. Es lässt sich hoffen, dass das Schule macht, nachdem zuletzt das Prinzip der regulären Giorgos-Lanthimos-Filme Schule gemacht hatte, und mit ihm leider auch die Vorgehensweisen von zwei anderen Typen, deren Filme ziemlich flashy und selten aber substanziell sind: Ruben Östlund und Ari Aster bilden gemeinsam mit Lanthimos die Trias, welche sich spätestens 2025 zur Hauptreferenz der Indie-Filmwelt etabliert hat. Zuallererst darf kein Film mehr unter zwei Stunden lang sein, muss im Grunde jeder Charakter ein veritables Arschloch und obendrein noch sehr kauzig sein, was dann eine Story tragen soll, die ebenso verschlungen wie undurchdacht (Referent Lanthimos), in penetrant eingesetzten Wiederholungen auf der Stelle tänzelnd (Referent Östlund) oder aufdringlich eskalativ (Referent Aster) ausfällt.

Das darf sich vermeintlich große Kunst nennen, da es sein Publikum mit einem Überangebot an Deutungsmöglichkeiten oder explizit herausgestellten Uneindeutigkeiten konfrontiert und weil sich vom Second-Screen-Slop auf Netflix eben nicht dasselbe sagen ließe, gereicht das zum Distinktionsmerkmal. Diese neue Tendenz, die natürlich von einer opulenten und bewusst ikonischen, bisweilen auch metamodernistisch-disparaten Bildsprache begleitet wird, wurde schon als Neo-Expressimus apostrophiert. Es ließe sich aber auch Selbst-Marketing dazu sagen: Diese Filme wollen weniger etwas sagen, als vielmehr von sich reden machen. Wenn die Epigon:innen dieser Autorenkinotrias allerdings aus „Bugonia“ etwas mitnehmen können: Wenn die Dinge etwas simpler und vor allem im Messaging wesentlich bescheidener angegangen werden, kommt dabei immerhin gute Unterhaltung bei raus. Und die hätten wir alle zumindest hin und wieder bitter nötig.

Kristoffer Cornils

Lichtspirale

Es ist der Abend des 24. März. Ich stehe auf dem Balkon, dampfe die letzte E-Zigarette des Tages und wäre es eine herkömmliche gewesen, wäre sie mir wohl aus dem Mund gefallen. Über mir, hoch am dunklen Himmel, weit hinter den Wolken, beginnt just in diesem Moment ein irres Schauspiel. Blaues Licht dreht sich spiralförmig um ein Zentrum. Das kann kein vom Berliner Boden projiziertes Licht sein, es sieht außerirdisch aus. Sie sind da. Sind sie? Wegen mir? Soll ich mitkommen? Völlig verwirrt, seltsam aufgedreht, verlasse ich, als das geometrische Wunderwerk verblasst, den Balkon. Die buchstäbliche Auflösung: Es war eine Falcon-9-Rakete von SpaceX. Die vor der Rückkehr zur Erde ihre Treibstoffreste abgelassen hat. Die gefroren zu Eis und formten durch die Bewegung der Rakete eine Spirale, die wiederum durch das Sonnenlicht über dem Erdschatten reflektiert wurde. Welch traurige Erklärung dieses optischen Meisterwerks: Elons Weltraumpimmel ballert fossilen Treibstoff in die obersten Schichten der Atmosphäre. 2025 in einem Bild.

Jan-Peter Wulf

Morgen ist ein neuer Tag

Hinson

Micah P. Hinson | Foto: Promo

Wären Zigaretten und Alkohol nicht so verpönt, wäre Micah P. Hinson der Tom Waits der Gegenwart. Seine Alben begleiten mich seit langer Zeit, ganz sachte und unaufdringlich. Spült mir das Streaming schon rein. Früher, da kamen die Promos reingerollt und rangierten mich auf das Abstellgleis der uneingeschränkten Konzentration und Hingabe. Heute kann es schon mal etwas dauern, bis es die Zeit erlaubt, in seinen folkigen Sound-Keller abzutauchen. „The Tomorrow Man“ heißt sein 2025er-Album. Intensiv und fleeting zugleich ist der Klang, die Texte noch intensiver. Die Zeiten, in denen der Raum staubig und das Instrumentarium minimal war, sind schon lange vorbei. Ein Glitzern von Schmacht liegt über den Songs, üppige Streicherarrangements wattieren die hoffnungsvolle Traurigkeit des Scheiterns. Das passt in die klischeebehaftete Vorstellung eines nächtlichen Hollywoods, das es zwar nie gab, wir aber als Metapher doch alle verstehen. Nun zeigt er sich auf dem Pressefoto doch mit stylischer Zigarettenspitze, nur die Stimme ist noch nicht so brüchig, wie ich es mir wünschen würde, um das Klischee perfekt zu machen. Macht nichts. Ich denke mir meinen Teil. Oh Mr. Hinson, Sie sleepyhead, Sie großer Geschichtenerzähler und Herzverwirrer. Sie sind der Superheld, den sich Marvel nicht ausdenken kann.

Thaddeus Herrmann

Popjournalismus

„Gegenwart machen“ ist ein ziemlich selbstreferentieller Titel für ein Buch über sogenannte Zeitgeistmagazine, von denen nur noch ein einziges überhaupt noch existiert – und vielleicht eigentlich auf diesen 300-irgendwas doch fehl am Platz ist. Angefangen mit dem Format der Oral History bis hin zum Logo der nur einmal kurz erwähnten VICE auf dem Cover und den die Redebeiträge der anderen Beteiligten um das Dreifache übersteigernde Einschüben eines Benjamin von Stuckrad-Barre lässt sich Ähnliches jedoch über jeden anderen Aspekt von Erika Thomallas Oral History des Popjournalismus sagen. Nur sind Selbstreferentialität und Selbstreflexion zwei verschiedene Dinge. Auch wenn immer alle nochmal sagen müssen, dass Frauen in den Redaktionen von Sounds, Tempo oder der deutschen Ausgabe der Vanity Fair echt unterrepräsentiert waren und Mark Terkessidis immerhin zu Wort kommt und die Spex dafür rügen kann, reichlich lange deutschen Migrationsgeschichten keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben: Die Frage nach sozioökonomischen Strukturen oder auch nur der Wirtschaftlichkeit des eigenen Unterfangs wird ebenso selten aufgeworfen wie die nach dem realen Impact dieser angeblich so bahnbrechenden Magazine mit ihren Autoren wie Maxim Biller und Moritz von Uslar, die sich freilich selbst als Revolutionäre ihrer Zunft apostrophieren dürfen.

Dass die Auflagen dieser Zeitschriften fast durchwegs im mittleren bis unteren fünfstelligen Bereich beziffert werden, hätte allemal Anlass zur Diskussion darüber geben können, ob sie nicht aus der Bubble heraus in die Bubble hinein geschrieben wurden. Aber nein, die Nabelschaunostalgie hat hier den Vorrang. Mess- oder allemal spürbar ist ja zumindest der Impact auf die Medienproduktion insgesamt, wobei dann diesbezüglich doch niemand so recht zugeben will, dass etwa die anzitierten Clickbait-Factory VICE und der Ragebait-Maestro Ulf Poschardt die Hauptprodukte des Popjournalismus waren und dass sich diese Gegenwartsmacher:innen von anno dunnemal ernsthaft mit der Auswirkung ihrer Oberflächenobsession auf die Gegenwart von heute auseinandersetzen sollten. Sage ich als jemand, der selbst die letzte Schicht bei Spex geschoben hat und sich mit nur fünf Jahren Abstand fragt, ob das alles immer so richtig war, und der genau deshalb zur Käuferschaft eines 36 Euro teuren Buches gehört, dessen Absatzzahlen wohl kaum höher als im mittleren oder gar unteren dreistelligen Bereich beziffert werden könnten. Der Zeitgeist ist längst schon weiter, der Schaden aber nunmal angerichtet.

Kristoffer Cornils | Schöffing

Pudding mit der Gabel essen

In Karlsruhe fing es an, es fand bald im ganzen Land statt: Junge Menschen treffen sich in Parks oder auf Plätzen, um gemeinsam Pudding zu essen. Mit einer Gabel. Und die Medien fragen sich: Geht es um das Dessert? Das ungewöhnliche Besteck? Mitnichten: Es geht darum, sich IRL, also in real life, zu treffen. Nicht alleine zu sein. Neue Menschen kennenzulernen. The kids are alright. Mehr Pudding, mehr Gabeln bitte!

Jan-Peter Wulf

Radu Jude

rade jude

Foto: @Grandfilm

Wo steht Radu Jude im Jahr 2025? Ausgerechnet in dem Jahr, in dem progressive Milieus das Thema „Klasse“ wiederentdeckt haben, hat das oft klassenkämpferische Kino des rumänischen Regisseurs einen zunehmend schweren Stand, zumindest bei der Kritik. Mal wurde ihm ein unangenehmer Blick auf seine weiblichen Protagonistinnen attestiert, dann wieder hieß es, sein Kino sei zu cinephil, das Einziehen unzähliger Metaebenen in Filmen wie „Do Not Expect Too Much from the End of the World“ sei von einem maskulin-genialischem, ebenfalls unangenehmen Impetus durchdrungen. Bevor seine Dracula-Verfilmung startet, von der man im Vorfeld schon viel Schlechtes hören konnte, hat sich 2025 fast unbemerkt „Kontinental ’25“ in die deutschen Kinos geschlichen, ein stiller, in seinen stilistischen Mitteln ganz bescheidener Film. Erzählt wird die Geschichte der Gerichtsvollzieherin Orsolya, die im rumänischen Cluj eine Hausräumung zu verantworten hat, da Investoren hier etwas Gewinnversprechenderes errichten wollen.

Ein Obdachloser, dessen Quartier im Keller des Hauses geduldet war, nimmt sich wegen der Räumung das Leben und von nun an begleitet der Film die seit diesem Vorfall von moralischen Zweifeln geplagte Orsolya durch mehrere Episoden, in denen sie mit verschiedenen Menschen das Gespräch sucht. Es ergibt sich eine aktualisierte Adaption von Rossellinis „Europa ’51“, in der es nicht nur um persönliche Dilemmata, sondern auch um ungarische Minderheiten und den Stand Europas im Jahr 2025 geht. Gedreht wurde der für Radu Judes Verhältnisse recht konventionell erzählte Film in weniger als eine Woche, gefilmt wurde mit einem iPhone 15, welches sich weniger für die verhandelten moralischen und politischen Fragen interessiert, sondern in Innenaufnahmen immer wieder eigenmächtig Fokus-Verlagerungen vornehmen darf.

Christian Blumberg

Schwimmen

schwimmen

Foto: Nikta Vahid-Moghtada

Es ist Mai, circa 7.30 Uhr und die efeuberankten Bauhaus-Gebäude machen die Varnhagenstraße wie jedes Jahr im Frühling zum schönsten Anblick im Berliner Stadtbild. Das Fahrrad schnurrt, Ziel ist das Freibad Pankow. Ob bei Nieselregen oder amtlichen Sommertemperaturen habe ich dort innerhalb von vier Monaten jeden einzelnen der 20 Punkte auf meiner Dauerkarte eingelöst. Und mir dann am 1. Oktober ein Monatsticket gelöst, um nunmehr im kleinen Schwimmbad direkt vor meinem Plattenbau weiterzumachen. In einem Jahr, in dem die Probleme im Nahumfeld so sehr Überhand nahmen, dass sie sich nachgerade in mein Gehirn reingedrückt haben, konnte ich mich mit jeder Bahn davon etwas loskraulen, früh morgens im Slalom um rüstige und aber nicht sehr rasche Rückenschwimmerinnen herum. Und freilich: Den Tag mit Chlorgeruch in der Nase und aufgewärmten Muskeln anzugehen, rettet nicht alles. Ab und an aber das Leben.

Kristoffer Cornils

Sehnsucht in Sangerhausen

In dem Schlager, der zu Beginn von Julian Radlmaiers dritten Spielfilm „Sehnsucht in Sangerhausen“ zu hören ist, singt Bianca Graf über ihre Erkenntnis, dass die schönsten Rosen der Welt sich nicht in Berlin, New York oder Athen finden lassen, sondern in der ehemaligen Bergbaustadt in Sachsen-Anhalt. Wenn Filmschaffende nach beeindruckenden Drehorten Ausschau halten, dann fällt ihr Blick zumeist ebenfalls zuerst auf internationale Großstädte. Vielleicht zu Unrecht, besonders wenn man sieht, wie es Radlmaier und seinem Kameramann Faraz Fesharaki auf spektakuläre Art und Weise gelingt, die am Fuße einer Bergehalde gelegene Provinzstadt immer wieder in einen Garten Eden der Volkssolidarität zu verwandeln. Die Frage nach dem Sündenfall ist jedoch ebenfalls allgegenwärtig. Rassismus, fehlendes Klassenbewusstsein und spaltende politische Rhetorik stehen im krassen Gegensatz zu den Versprechen, welche die immer wieder ins Bild gesetzten Arbeiterdenkmäler verkünden.

Auch der Arbeiterin Ursula (Clara Schwinning), die morgens in einem Möbelhaus staubsaugt und anschließend im Rosencafé Kaffee und Kuchen serviert, sollte man ein Denkmal errichten. Sie ist eine von vier Frauenfiguren, die in Sangerhausen teils durch Zufall, teils durch Geisterhand aufeinandertreffen und gemeinsam mit einem unkonventionellen koreanischen Touristenführer zu einer utopisch aufgeladenen Schicksalsgemeinschaft zusammenwachsen. „Sehnsucht in Sangerhausen“ ist ein verspielt-optimistischer Gegenentwurf zur Trostlosigkeit des deutschen Sozialdramas und lässt den Osten in einer Schönheit erstrahlen, wie man dies seit dem Mauerfall nicht mehr gesehen hat. Mein Filmhighlight 2025.

Tim Schenkl

Slow Horses

Wieder geschaut, wieder super. Beeindruckend vor allem in der fünften Staffel, wie sich die Serie immer mehr dramaturgisch hochjazzt in der inhärenten Egalheit der Londoner Backstreets. Der Plot der sechs 2025er-Folgen ist nach dran an den besten Zeiten von „Spooks“ – mit dem Unterschied, dass Gary Oldman nach wie vor einen unerreichten Ton setzt, der zwischen Humor und Sarkasmus die Realität besser einfängt als das meiste Andere.

Thaddeus Herrmann

slow horses 2025

Foto: Apple

TRM für nachhaltigere KI

In ihrer Forschungsarbeit mit dem Titel Less is More: Recursive Reasoning with Tiny Networks stellt die KI-Forscherin Alexia Jolicoeur-Martineau eine provokante These auf: Für komplexes logisches Denken braucht es keine riesigen Sprachmodelle mit Hunderten Milliarden Parametern. Stattdessen können sehr kleine, gezielt aufgebaute neuronale Netze erstaunlich leistungsfähig sein – oft sogar leistungsfähiger als bekannte Large Language Models.

Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist das sogenannte Hierarchical Reasoning Model (HRM), ein neuartiger Ansatz für maschinelles Denken. HRM besteht aus zwei kleinen neuronalen Netzen, die auf unterschiedlichen Zeitskalen arbeiten und sich dabei rekursiv, also wiederholt, gegenseitig aufrufen. Dieser Mechanismus ist biologisch inspiriert und orientiert sich an der Idee, dass auch das menschliche Gehirn auf mehreren Ebenen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten denkt. Trotz seiner geringen Größe zeigt HRM beeindruckende Ergebnisse bei besonders schwierigen Aufgaben. Dazu gehören klassische Logikprobleme wie Sudoku und Labyrinthe, aber auch der ARC-AGI-Benchmark, der als einer der anspruchsvollsten Tests für abstraktes maschinelles Denken gilt. Bemerkenswert ist vor allem, dass HRM mit relativ wenig Trainingsdaten auskommt. Mit rund 27 Millionen Parametern und etwa tausend Trainingsbeispielen erreicht es Leistungen, für die andere Modelle enorme Datenmengen und Rechenressourcen benötigen.

Gleichzeitig macht Jolicoeur-Martineau deutlich, dass HRM noch nicht vollständig verstanden ist und möglicherweise nicht optimal arbeitet. Genau an diesem Punkt setzt ihre neue Idee an. Sie schlägt ein deutlich vereinfachtes Modell vor, das sie Tiny Recursive Model (TRM) nennt. Während HRM noch aus zwei getrennten Netzwerken besteht, nutzt TRM nur ein einziges, sehr kleines neuronales Netz mit lediglich zwei Schichten. Das Modell verarbeitet seine eigenen Zwischenergebnisse immer wieder neu und entwickelt so Schritt für Schritt eine Lösung.

Mit nur etwa sieben Millionen Parametern erreicht es auf ARC-AGI-1 eine Testgenauigkeit von 45 Prozent und auf ARC-AGI-2 rund acht Prozent. Diese Werte liegen über denen vieler großer Sprachmodelle wie DeepSeek R1, o3-mini oder Gemini 2.5 Pro, obwohl TRM weniger als 0,01 Prozent der Parameter dieser Modelle besitzt.

ChatGPT

ZEA & Drumband Hallelujah Makkum – in lichem fol beloften (Makkum)

Ein desolater Altpunk singt mit distanzierten Gesten von der Marschkapelle seines Vaters, begleitet traurige Lieder mit Texten von unter anderem Nelly Sachs – und zwar auf Friesisch. Der Elevator Pitch zu „in lichem fol beloften“ ist dermaßen absurd, dass es ernsthaft überrascht, wie gut das Endresultat funktioniert. The-Ex-Mitglied Arnold de Boer und die drei anderen Mitglieder von ZEA – Xavier Charles (Klarinette), Harald Austbø (Cello) und Ineke Duivenvoorde (Schlagzeug) – setzen in ihren sehr intimen Stücken den Bombast der Drumband Hallelujah Makkum nur selten und sehr klug ein. Es gibt auf diesem Album keine großen Gesten, stattdessen reihen sich kleine Momente der Verzweiflung und des Trosts aneinander. Das lässt sie selbst in ihren kammermusikalischsten Momenten imposant und dann noch nahbar scheinen, wenn die gesammelten Trommelstöcke auf den Snares rühren. Es gibt kein, wird niemals ein zweites Album wie dieses geben. Es wird bleiben, wenn alles andere schon wieder zusammengebrochen ist.

Kristoffer Cornils

Zusätzlichkeit

Ein Wort, großer Unterschied: In das enorme Sondervermögen, das ausgerechnet von der konservativen neuen Regierung auf den Weg gebracht wurde, hatten vor allem die Grünen noch dieses Wort hinein verhandelt. Damit sollte klargestellt werden: Mit dem 500 Milliarden großen Geldsegen sollten zusätzliche Investitionen in Verkehr, Energie, Digitalisierung, Bildung u. a. finanziert werden, genauer: Gelder sollen nur dann fließen, wenn sie tatsächlich über das normale Investitionsniveau im Bundeshaushalt hinausgehen, nicht aber bestehende Projekte ersetzen. Ein smarter Move, doch der Tigersprung landet schon nach einem halben Jahr als Bettvorleger. Denn in Gesetzesfassungen und Haushaltsplänen wurde das Wort, insofern haben wir es mit einem Wortbruch zu tun, rausgestrichen oder so abgeschwächt, dass am Ende bereits vorgesehen Investitionen oder sogar konsumptive Ausgaben damit bezahlt werden. Aktuellen Studien zufolge wird bereits jeder zweite Zusatzeuro dafür verwendet.

Jan-Peter Wulf

Plattenkritik: The Black Dog – Loud Ambient (Dust Science Recordings)Alors on danse