Pageturner – Mai 2025: AlltagLiteratur von Toya Wolfe, Karina Sainz Borgo und Lauren Beukes

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Klarkommen, überleben, leben! Toya Wolfe beschreibt in „Last Summer on State Street“ die prekären Verhältnisse auf der South Side in Chicago. Karina Sainz Borgo nimmt in ihrem Roman „Das dritte Land“ ein Stück Erde in den Fokus, das von Flüchtenden als Friedhof zweckentfremdet wird – weil die Toten nirgendwo anders willkommen wären. Und Lauren Beukes erzählt in „Bridge“ von einer Messy-Mutter und Neurochirurgin, die im Multiverse den Exit von ihrem Schicksal mit Gehirntumor plant und umsetzt. Alltag halt.

Pageturner Mai 2025 Toya Wolfe – Last Summer on State Street Artwork

Last Summer On State Street (Affiliate-Link)

Toya Wolfe – Last Summer on State Street (William Morrow, 2022)

Vom Aufwachsen in einem Sommer am Ende des vergangenen Jahrtausends in den Projects. Genauer gesagt den Sozialbauten der „Robert Taylor Homes“ in der South Side von Chicago, die später im selben Jahr abgerissen werden und einem Park weichen müssen, um das innenstadtnahe Viertel gentrifizierend aufzuwerten. Ein Sommer auch zwischen Kind sein und Frau werden, zwischen Armut, Sucht, Gang- und Polizeigewalt. Mit Mädchenfreundschaften, Hoffnung, Crushes, Eifersucht, Enttäuschungen und Trauer.

Das Erstaunliche an der Schilderung dieser Jugend ist gar nicht mal nur die exakte Beschreibung einer Umgebung, in der man immer auf der Hut sein muss, die Stimmung in Sekunden kippen kann und Messer oder Kugeln die letzten Argumente liefern. Es sind auch nicht unbedingt die familiären Beziehungen (was hier fast immer Mutter-Tochter-Beziehungen bedeutet – Väter und große Brüder sind abgehauen, tot oder im Gefängnis), die Zusammenhalt unter widrigsten Bedingungen, ein Minimum an Solidarität versprechen (und es oft nicht halten können, da sind die Drogen und das Amt vor). Das Überraschende ist tatsächlich die Normalität der Menschen, die sich in diesen Umständen zurechtfinden müssen. Toya Wolfe, selbst in den Projects aufgewachsen, beschreibt den täglichen Struggle, der von den Mädchen aber eben selten als solcher empfunden wird, mit aller notwendigen Härte. Wie aus den (mal vom Fokus auf die Heranwachsenden abgesehen) ganz ähnlich erzählten Büchern und TV-Serien von David Simon, etwa „The Wire“, bekannt, ist es schwierig aus diesen Umständen gänzlich unbeschädigt heraus zu kommen. Aber es ist möglich, obwohl immer etwas zurückbleibt, und viele – zu viele – es eben nicht schaffen. Für die, die es trotz allem tun, ist es die Familie, sind es fast immer die Mütter, die den Unterschied machen. Ohne diesen Rückhalt holen dich die Drogen und die Gewalt ein.

Pageturner Mai 2025 Karina Sainz Borgo – Das Dritte Land Artwork

Das Drittel Land (Affiliate-Link)

Karina Sainz Borgo – Das dritte Land (S. Fischer, 2023)

Das dritte Land ist ein illegaler Privatfriedhof irgendwo in den östlichen Bergen an der Grenze. Hier können die Flüchtenden ihre Toten begraben, was sie in der von Korruption gezeichneten und Drogenbanden kontrollierten Grenzstadt nicht können. Karina Sainz Borgo beschreibt ihn ihrem gleichnamigen Roman eine zeitgenössische, doch archaisch wirkende Welt, in der es keinen Ausweg geben kann aus Brutalität, Staub und Hitze, Verwahrlosung und Wahn. Das Land jenseits der Grenze bleibt eine unerreichbare Fiktion.

Die Familie, die mit ihren auf dem Weg zur Grenze gestorbenen Kindern in dieser klaustrophobischen Hölle strandet, versucht gar nicht erst zu entkommen, weiterzukommen. Der Rest von Würde und Menschlichkeit liegt in diesem illegitimen Friedhof, der als hartnäckiger Hoffnungsschimmer einer minimalen Humanität im Tod, als Bedrohung der lokalen Ordnung wahrgenommen wird und sich in steter Gefahr befindet, von den Söldnern der Provinzregierung, den Killern der Banden oder den restlos verwilderten ehemaligen Arbeitern des Ortes zerstört zu werden. Der Grund für die Flucht ist eine ungenannte Seuche, das Land bleibt ebenfalls ungenannt. Es ist allerdings nicht schwer zu erkennen, dass die Heimat Borgos gemeint ist: Venezuela. Das Elend der Flüchtenden ist allerdings überzeitlich und nicht auf diesen namenlosen Ort beschränkt. Ein globale Dystopie, die keine ist, sondern eben Realität.

Pageturner Mai 2025 Lauren Beukes – Bridge Artwork

bridge (Affiliate-Link)

Lauren Beukes – Bridge (Michael Joseph, 2023)

Es beginnt wie klassische Mystery: Eine Tochter, die lange keinen Kontakt zur Mutter hatte, ordnet deren Nachlass, einen tendenziellen Messie-Haushalt, vernachlässigt für viele Jahre, nicht unähnlich der Tochter. Die Mutter dagegen: eine komplexe wie komplizierte Persönlichkeit, Neurochirurgin und spätberufene Wissenschaftlerin, brillant und zielstrebig, aber auch unzuverlässig und nur an ihrem einen lebensbestimmenden Projekt interessiert, das unmittelbar mit ihrem Tod an einem Gehirntumor zu tun hat. Denn was die Tochter beim Durchstöbern des Hauses findet, extrem gut versteckt und nur über privatklausulierte Schnitzeljagd aufzufinden, ist das Forschungsobjekt der Mutter: eine geheimnisvolle Substanz, die offenbar einen kurzzeitigen Einblick in eine Parallelwelt, in die Perspektive der parallelweltlichen Entsprechung der jeweiligen Anwender:innen der Substanz erlaubt.

Die Substanz, der „Dream Worm“, ist – wie sich herausstellt – kontrollierbar und mutmaßlich sogar für eine permanente Passage gut, wenn sie mit den richtigen Frequenzen in Resonanz tritt, hier durch psychedelische Musik und Lichteffekte getriggert. Es ist also zumindest zu Beginn nicht hundertprozentig klar, ob es nicht doch nur um eine potente Droge handelt. Doch die Parallelweltreisen könnten echt sein, und es könnte viel mehr dahinter stecken als gedacht. Etwa, um eine Behandlung für den Gehirntumor der Mutter zu finden. Lauren Beukes variiert das typische Zeitreise- und Multiversums-Thema (die Protagonist:innen reisen in eine Parallelwelt oder zurück in die Zeit, um bereits gemachte Fehler in ihrer Welt mit dem Wissen der anderen Welten auszubügeln und machen dadurch alles noch schlimmer) geschickt mit haitianischen Voodoo-Mythen, neurowissenschaftlichen Themen und (eventuell abschreckend für zartere Gemüter mit hoher Vorstellungskraft) Parasitismus. Und eben mit einer verkorksten Mutter-Tochter-Beziehung. Angenehm queer ist das Personal des Romans zudem noch. Ebenfalls selbstverständlich und genrekonform gibt es obskure Kräfte, die ziemlich rabiat versuchen, die töchterlichen Mutterrettungsversuche zu verhindern. Eine nette Pointe ist, dass die Ausgangswelt dieser Multiversums-Begehungen eben nicht unsere ist. Sondern eine relativ ähnliche, die aber doch in vielen fein ausgemalten Details anders ist, und unsere Erde offenbar nur eine von vielen der halbstündig besuchten Welten.

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