Pageturner – Juni 2025: Weit weg, nah dranLiteratur von Yuko Tsushima, Mieko Kanai und Emi Yagi
1.6.2025 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann Massute
Japanische Literatur hat weit mehr zu bieten als Murakami. Das ist natürlich eine Binse, doch selbst Werke, die in Japan Klassiker sind, werden hierzulande immer noch viel zu selten übersetzt. Frank Eckert hat für seine Literatur-Kolumne drei Bücher herausgesucht. Yuko Tsushima schrieb „Räume des Lichts“ 1979 und berichtet vom Leben als alleinerziehende Mutter in den 1970er-Jahren. Mieko Kanai schließt in „Leichter Schwindel“ daran an und beleuchtet die Schwere des Alltags. 1997 erschien dieses Buch in Japan und ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung zu haben. Dass in den sozialen Hierarchien seitdem wenig vorangekommen ist, zeigt Emi Yagi in „Frau Shibatas geniale Idee“. Drei starke Stimmen, die die gesellschaftlichen Realitäten ihrer Heimat thematisieren.

Räume des Lichts (Affiliate-Link)
Yuko Tsushima – Räume des Lichts (Arche, 2023. Übersetzung Nora Bierich)
Erfreulich, dass es jenseits der Klassiker und Nobelpreisträger noch einen, vermutlich sehr übersichtlichen, aber doch immerhin überhaupt existenten Markt für deutsche Übersetzungen älterer und neuerer japanischer Literatur gibt. Eine dieser ziemlich späten Übertragungen ist Yuko Tsushimas international bekanntester Roman „Räume des Lichts“. In Japan war die 2016 gestorbene Tsushima durchaus eine medial präsente Figur und so etwas wie ein feministisches Vorbild, obwohl sie diese Zuschreibung immer ablehnte. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter (im Japan der 1950er-Jahre definitiv eine Seltenheit) und selbst alleinerziehend hat ihre oft prekäre Lebenssituation auch ihren Roman entscheidend geprägt. Autofiktion ist es dennoch nicht.
Es geht um nicht weniger als die Selbstbehauptung und Selbsterhaltung einer Mutter, die als gesellschaftliche Außenseiterin im rigiden sozialen System Japans der 1970er-Jahre bestehen und ein Auskommen finden muss, um für sich und ihr Kind zu sorgen. Die Bewältigungsstrategien führen von der tristen Realität einer winzigen Dachwohnung auf einem verkehrsumtosten Bürogebäude in die Räume des Lichts (immerhin hat die Wohnung auf allen Seiten Fenster) und der emphatisch-kindlichen Betrachtung der Welt, des Lebens als Spiel und Fantasie. Aus stoischer Genügsamkeit und tagträumerischer Weltflucht, aber auch massiven Ängsten und panischen Selbstvorwürfen erwächst eine Art störrischer Emanzipation, die sich selbst vermutlich nie so nennen würde. Erzählt ist es in stillen Bildern und immer wieder beunruhigender Überlagerung von Realität und Vorstellung. Ein moderner Klassiker, der nun endlich weitere Aufmerksamkeit bekommt.

Leichter Schwindel (Affiliate-Link)
Mieko Kanai – Leichter Schwindel (Bibliothek Suhrkamp, 2025. Übersetzung Ursula Gräfe)
Die Japanerin Mieko Kanai ist derselbe Jahrgang wie Yuko Tsushima und teilt tendenziell ihr Schicksal der verspäteten Übersetzung in andere Sprachen. Kanais international bekanntester Roman „Leichter Schwindel“ operiert ähnlich wie Tsushimas „Räume des Lichts“ am verschwommenen Rand des Alltäglichen, wo die Routinen und endlosen Wiederholungen des Familienlebens mit kleinem Kind zu einer peripheren Unschärfe der Gedanken führen, wo sich Vorstellung und Vorhandenes vermischt, wo auch medial Aufgenommenes (in diesem Fall noch der Prä-Internet- und -Smartphone-Ära) sich mit dem Vorliegenden überlappt. Und im Endeffekt den leichten Schwindel des Titels erzeugt. An der Oberfläche ist es eine Aneinanderreihung banaler Vorgänge, die in ihrer Selbstverständlichkeit durch das explizite Benennen seltsam und fremd, manchmal sogar leicht unheimlich werden. Auch dies ein moderner Klassiker, der nun endlich weitere Aufmerksamkeit bekommt.

Frau Shibatas geniale Idee (Affiliate-Link)
Emi Yagi – Frau Shibatas geniale Idee (Atlantik, 2021. Übersetzung Luise Steggewentz)
Das Romandebüt der Japanerin Emi Yagi spielt eine einfache Idee konsequent aus. Eine Idee, die vermutlich nur in einer so konservativen und genderseparierten Kultur wie der traditionellen japanischen Geschäftswelt funktionieren kann. Genervt von den starren Strukturen, den latent sexistischen Vorurteilen und akuten Zumutungen des traditionellen mittelständischen Unternehmens, in dem die Erzählerin arbeitet, beschließt sie eines Tages spontan zu erzählen, dass sie schwanger ist, einfach nur um ihre eigene qualifizierte Arbeit in Ruhe machen zu können, und nicht noch das Kaffee kochen, Spülmaschine einräumen, Kühlschrank aufräumen und Büroküche putzen (inoffiziell und informell, aber real jeden Tag, andauernd) übernehmen zu müssen.
Das funktioniert unmittelbar. Die vorwiegend männliche Belegschaft im Backoffice der kleinen Firma steigt geschlossen auf Instantkaffee um. Wo vorher hierarchische Gleichgültigkeit herrschte, gibt es nun plötzlich Aufmerksamkeit und Privilegien, etwa schon um fünf Uhr nach Hause fahren zu können, ohne Gruppenzwang zum Sozialisieren. So zieht Frau Shibata ihre Idee gnadenlos konsequent durch – inklusive Selbsttäuschung und bis zum erwarteten Ende und darüber hinaus. Warum es funktioniert, sowohl im hierarchischen Ökosystem des Büros wie im Yoga-Studio, liegt wohl an der generellen Indifferenz. Gemeinschaft ist wichtig, aber Privates bleibt ultimativ im Dunkeln, niemand interessiert sich ernsthaft dafür. Die eigentliche Utopie ist aber, dass die Männer hier tatsächlich lernfähig sin und sogar ihre Rollen überdenken, wenn sie dazu genötigt werden.