Der Überwachungskapitalismus überwacht, um auszubeutenUnderstanding Surveillance Capitalism | Teil 3

Ueberwachungskapitalismus

Der Begriff „Überwachungskapitalismus“, geprägt von Shoshana Zuboff, beschreibt ein System, in dem digitale Daten zur Ware und Nutzerverhalten zur Ressource wird. Doch die eigentliche Frage ist nicht, dass wir überwacht werden – sondern wer davon profitiert. Timo Daum plädiert dafür, diese neue, digital-kapitalistische Form der Ausbeutung als Produktivkraft zu verstehen, die von den Fesseln der Produktionsverhältnisse befreit werden muss.

Der Überwachungskapitalismus

2019 erschien das in der Folgezeit viel diskutierte Buch der Harvard-Juristin Shoshanna Zuboff „Überwachungskapitalismus“. Es beschreibt, wie Unternehmen, insbesondere in der Technologiebranche, riesige Mengen persönlicher Daten sammeln, analysieren und zu Geld machen, die durch die Online-Aktivitäten von Einzelpersonen generiert werden. Der Überwachungskapitalismus organisiert die Kommerzialisierung persönlicher Daten mit dem Hauptzweck der Gewinnerzielung. Technologieunternehmen wie Google, Meta, aber auch Tesla sind die Hauptakteure dieses Systems datenextraktiver Praktiken. Der Überwachungskapitalismus stützt sich auf eine riesige Infrastruktur von Tracking-Technologien wie Cookies, Algorithmen und Geräten, die Benutzeraktivitäten kontinuierlich überwachen und aufzeichnen.
Der Titel suggeriert – und diese Lesart bestimmt die Debatte bis heute –, dass die Tech-Konzerne uns überwachen und dass dies eine Praxis sei, die am besten unterbleiben sollte. Doch eine andere Lesart ist möglich: Sie beschreibt die Funktionsweise des digitalen Kapitalismus, der aus Daten ein Geschäft gemacht hat. Die private Aneignung und kapitalistische Verwertung sollte ins Zentrum der Kritik rücken, nicht das historische Auftauchen von Big Data als Produktivkraft. Wenn Überwachung die Dampfmaschine unserer Zeit bzw. die Elektrizität des digitalen Zeitalters ist: Müsste sie dann nicht vergesellschaftet, befreit werden von den Fesseln der Produktionsverhältnisse?

Zuboffs Analogie zum industriellen Kapitalismus

Shoshana Zuboff betont eine direkte Analogie zwischen der Ausbeutung von Arbeiter:innen im industriellen Kapitalismus und der Ausbeutung von Nutzer:innen im Überwachungskapitalismus: Beiden liege die gleiche Logik zugrunde. Zuboff ist da stark, wo sie sich analog zu Marx’ Kapital argumentiert, sie skizziert eine Parallele zwischen seinem Konzept des Mehrwerts und dem, was sie „Mehrwertverhalten“ in der digitalen Welt nennt.
So wie der industrielle Kapitalismus Rohstoffe aus der Natur extrahiert und die Arbeitskraft von Arbeiter:innen ausbeutet, um Profit zu erzielen, extrahiert der Überwachungskapitalismus Rohdaten als Rohstoffe in Form von persönlichen Daten von Individuen – ebenfalls mit dem Ziel, diese profitabel zu machen. Im industriellen Kapitalismus waren Fabriken auf die Gewinnung natürlicher Ressourcen (wie Kohle, Eisen und Öl) und die Arbeitskraft von Arbeiter:innen angewiesen, um Waren herzustellen. Im Überwachungskapitalismus sind die „Rohstoffe“ Verhaltensdaten – Informationen darüber, was Menschen tun, sagen und denken, die aus ihren Online-Aktivitäten gewonnen werden.
In Marx‘ Analyse des industriellen Kapitalismus bezieht sich der Mehrwert auf den zusätzlichen Wert, der durch die Arbeit der Arbeiter:innen über ihren Lohn hinaus geschaffen wird. Dieser Wert wird von den Kapitalisten (Fabrikbesitzern) als Profit erfasst. Arbeiter:innen produzieren durch ihre Arbeit mehr Wert, als sie als Vergütung erhalten, und dieser „Überschuss“ ist die Quelle des kapitalistischen Profits.
Marx betrachtete dies als Ausbeutung, da die Arbeiter:innen für ihre Arbeit nicht vollständig entschädigt werden, die Eigentümer der Produktionsmittel behalten den Mehrwert für sich. In Zuboffs Analyse des Überwachungskapitalismus bezieht sich Überschussverhalten auf die überschüssigen Verhaltensdaten, die von Einzelpersonen generiert werden, wenn sie mit digitalen Plattformen und Geräten interagieren. Diese Daten werden von Unternehmen gesammelt, analysiert und monetarisiert. So wie die Arbeit der Arbeiter:innen im industriellen Kapitalismus zur Schaffung von Mehrwert ausgebeutet wird, wird im Überwachungskapitalismus das Online-Verhalten der Einzelpersonen zur Schaffung von Überschussdaten ausgebeutet.

Ausbeutung durch Überwachung 2500

Es ist bemerkenswert, dass Marx sich gegen die Haltung stellt, der Arbeiter bzw. die Arbeiterin werde nicht ausgebeutet im Sinne von Beraubung, Betrug oder Entzug seines gerechten Anteils. Ganz im Gegenteil – es geht ganz mit rechten Dingen zu: Obwohl das Kapital versucht, die Ausbeutung der Arbeiter:innen durch lange Arbeitszeiten, niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen zu intensivieren, ist das alles in Ordnung, legal und basiert auf gegenseitiger Vereinbarung zwischen den Parteien – dem Eigentümer der Arbeitskraft, den Arbeitenden – er/sie ist kein Sklave, sondern ein freier Mann/eine freie Frau – und dem willigen Käufer zu den aktuellen Marktbedingungen. Ausbeutung ist für Marx keine moralische oder ethische Forderung oder Haltung, sondern ein quantitativer, messbarer Akt des Mehrwertflusses.
In ähnlicher Weise beutet der Überwachungskapitalismus Benutzer:innen aus, indem er ihre persönlichen Daten ohne faire Entschädigung oder sinnvolle Zustimmung extrahiert. Benutzer:innen sind sich oft nicht bewusst, in welchem Ausmaß ihre Daten gesammelt und monetarisiert werden. Aber dies ist meistens perfectly legal. Die „Zahlung“, die die Benutzer:innen erhalten, sind Dienstleistungen.
In beiden Systemen werden die extrahierten Ressourcen (ob Arbeit oder Daten) verwendet, um Gewinn für eine kleine Gruppe mächtiger Einheiten zu erzielen – Fabrikbesitzer im Industriekapitalismus und Technologieunternehmen im Überwachungskapitalismus. Dies schafft ein Machtungleichgewicht, bei dem die Vorteile den Wenigen auf Kosten der Vielen zugute kommen.
Sowohl Marx als auch Zuboff kritisieren die systemische Natur dieser Prozesse. Und argumentieren, dass es sich dabei nicht um isolierte Vorfälle, sondern um grundlegende Merkmale der von ihnen beschriebenen Wirtschaftssysteme handele. Der Vertrag zwischen Arbeiter und Kapital ist ein gutes Beispiel für „stummen Zwang“, eine vollkommen legale Vereinbarung zwischen formal gleich freien Individuen, die in voller Handlungsfähigkeit und im vollen Bewusstsein der Konsequenzen eine gegenseitige Vereinbarung eingehen.

Regulierung/Datenschutz – der Achtstundentag des digitalen Zeitalters

So wie Arbeiter:innenbewegungen und Regulierungen entstanden, um die Missstände des Industriekapitalismus anzuprangern, schlägt Zuboff vor, dass ähnlicher Widerstand und ähnliche Regulierungsrahmen erforderlich seien, um die Schäden des Überwachungskapitalismus anzugehen. Denn sie sieht den Überwachungskapitalismus als „Bedrohung für die Demokratie“, als Angriff auf Autonomie und Menschenwürde. Hier wird die Autorin ganz sozialdemokratisch, fordert strengere Datenschutzgesetze und tritt für mehr Transparenz und Benutzerkontrolle über Daten ein.
Hier endet auch die Parallele zu Marx. Denn dieser sah bekanntlich – auch wenn er nichts gegen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen einzuwenden hatte, ja Zeit seines Lebens dafür gekämpft hat – ein Ende der Ausbeutung nur in einer radikalen Systemsprengung. Denn ihm war klar, dass auch die Abschaffung der Kinderarbeit per Gesetz zwar einen Erfolg darstellt, diese regulatorischen Maßnahmen aber eben die Ausbeutung regeln und keinesfalls grundsätzlich in Frage stellen, verbieten oder sanktionieren. So (siehe Kapitel 2) sorgt auch Datenschutz im Kern dafür, dass die Überwachungsausbeutung in geordneten Bahnen abläuft. Von Missbrauch, Betrug, illegalen Aktivitäten, die selbstverständlich ständig vorkommen – wie auch im industriellen Kapitalismus – abgesehen, ist die daily operation des Überwachungskapitals durch das bürgerliche Recht abgesichert. Und Privacy und Datenschutz sind Teil dieses Schutzmechanismus.

Nicht die Überwachung ist der Skandal

Der Skandal ist nicht, dass wir auch noch überwacht, statt „nur“ ausgebeutet zu werden. Sondern, dass diese „Überwachung“, diese neue Ausbeutungsform, in privater Form geschieht. Das ist das große Missverständnis, das Zuboff mit ihrem Titel und auch in dem Buch selbst bedient. Wir sollten den Überwachungskapitalismus nicht für seine Überwachung kritisieren, sondern diese als Entwicklungsstufe von Technologie sehen, an deren Nutzen wir die gleichen Maßstäbe anlegen sollten, wie wir das auch bei Elektrizität oder Internet tun: Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien ist das Stichwort.
Die vom Überwachungskapitalismus geschaffenen Maschinen zu vergesellschaften, das kann durchaus partiell bedeuten, sie einfach abzuschalten. Das wären die Atomkraftwerke unter den Überwachungsmaschinen. Aber das Gros der Tools, die die Tech-Konzerne – sich dabei dem akkumulierten Wissen der Welt bedient habend – auf uns losgelassen haben, ist es sicher wert, übernommen und umgestaltet zu werden. Wie Chat GPT oder DeepSeek zeigen, werden mittlerweile tendenziell alle von der Menschheit generierten Daten und Informationen in diese Maschinen eingespeist, die daraus immer neue Anwendungen ausspucken. Wobei die Ernte der Früchte dieses Datenextraktivismus nach wie vor privat erfolgt.

Wie würde Marx den Überwachungskapitalismus kritisieren? Er würde ihn vermutlich einerseits als vorerst letzte Stufe kapitalistischer Entwicklung ansehen. Vermutlich wäre er gleichzeitig durchaus angetan von den digitalkapitalistischen Technologien, die – analog zur großen Industrie seiner Zeit – die Grundlage für kommunistische Infrastrukturen einer postkapitalistischen Zukunft sein könnten.

Pageturner – Juni 2025: Weit weg, nah dranLiteratur von Yuko Tsushima, Mieko Kanai und Emi Yagi