Pageturner – Januar 2023: Freiheit, Selbstverwirklichung, EsoterikLiteratur von Carolin Amlinger & Oliver Nachtwey, Pia Lamberty & Katharina Nocun und Philipp Staab
5.1.2023 • Kultur – Text: Frank Eckert, Montage: Susann MassuteEs ist 2023. Und die gesellschaftlichen Brüche, die in den bisherigen Pandemie-Jahren stärker denn je zu Tage traten, bestimmen auch weiterhin den alltäglichen Puls. Macht, Machbarkeit, Freiheit: Das Miteinander ist nicht länger existent. Die FDP wettert gegen die letzten noch verbleibenden Masken-Bastionen, China erklärt das Virus für harmlos. Also reden wir – bzw. lesen wir – über Macht, Machbarkeit und Freiheit. Franck Eckert pickt mit „Gekränkte Freiheit“ das aktuelle Buch der Schweizer Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: eine tiefgreifende Analyse zum Wandel des Freiheitsbegriffs. Die Antisemitismus-Forscherin Pia Lamberty und die Journalistin Katharina Nocun beleuchten derweil in „Gefährlicher Glaube“ den Schmodder der Esoterik-Bewegung und erklären, warum die historisch und gesundheitspolitisch eine vorhersehbare Katastrophe ist. Derweil untersucht Philipp Staab in „Anpassung“ den mentalen Wandel von der Selbstentfaltung hin zur Selbsterhaltung. Es gibt viel zu tun im neuen Jahr.
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey – Gekränkte Freiheit (Suhrkamp, 2022)
Ein Klassiker eigentlich, die Frage, was jetzt genau mit Freiheit gemeint ist. Was als „Freiheit von“ oder „Freiheit zu“ verstanden, eingefordert, beklagt oder bekämpft wird. Wonach David Hasselhoff geschaut hat. Was die Menschen in Westernhagens Stadionkonzerten mitgegrölt haben. Die Bedeutung und Verwendung des Begriffs ist zweifellos äußerst dynamisch. Ein eher junges Phänomen ist allerdings, dass „Freiheit“ einerseits zunehmend im Zusammenhang mit neurechten, identitären und autoritären Ideologien verwendet wird und andererseits als Kampfbegriff heterogener Gruppen wie der „Querdenker“ oder „Impfskeptiker“ dient. Gemeinsam ist dieser neuen Verwendung, dass sie praktisch immer eine „Freiheit von“ meint und eine antidemokratische Agenda verfolgt. Freiheit von „woken“ Gender-Schreibweisen etwa, von solidarischen Vorschriften wie der Maskenpflicht und von der „Gängelung“ durch die Bundesregierung oder das RKI. Freiheit also als Konstrukt, das im Zweifelsfall dazu dient, einen Widerstand (von aktiv demonstrierend über gewaltbereit zur Umsturzvorbereitung) gegen bestehende demokratische Institutionen zu legitimieren und eine Neuordnung vorzubereiten, wie jüngst im Falle der „Reichsbürger“.
Wie und warum eine so verstandene Freiheit heute von diversen Akteur:innen dazu verwendet wird, um ihre Interessen durchzusetzen, davon berichten die Schweizer Soziolog:innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in „Gekränkte Freiheit“. Nicht nur der Freiheitsbegriff, sondern auch der „autoritäre Charakter“ deutschen Zuschnitts hat sich merklich gewandelt seit Musil, Mann, Adorno/Horkheimer oder Theweleit ihn in Romanen und Theoriewerken beschrieben haben. Das ist akut und wichtig, denn auch der Faschismus entsteht und arbeitet heute anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zur freiwilligen Unterordnung entsteht der Wille zur Feindschaft heute eher aus einer Abneigung gegen Autorität, die dann aber nicht emanzipativ verstanden wird, sondern konspirativ in eigene und repressiv auf andere Gruppen („Ausländer“, „Juden“) projiziert wird und zur Ablehnung des politischen Systems als Ganzes führt.
Da jegliche Perspektive auf ein neues alternatives System allerdings fehlt, entsteht meist ein Rückbezug auf ein autoritäres oder totalitäres System, einem starken Führer, zur Monarchie oder göttlicher Leitung. Diese heterogenen Ansprüche eint vor allem die Ablehnung jener „Freiheiten zu“, wie sie in und nach 1968 eingefordert, erkämpft und in einigen Fällen auch installiert wurden. Nicht selten sind es sogar dieselben Akteur:innen. Als diese Freiheiten partiell zum Mainstream wurden, hat sich das Koordinatensystem der Privilegien verschoben, und um die Hoheit über Moralität und Macht ist ein Kulturkampf entstanden. Und hier liegt im Kern auch der Grund, warum sich die neuen Autoritären so gerne des Begriffs der individuellen Freiheit bedienen. Sie haben inzwischen gelernt, die medialen Macht- und Aufmerksamkeitsinstrumente für sich selbst zu nutzen. Dass plötzlich wieder häufig von einer „Querfront“ die Rede ist, kann daher ebenfalls kein Zufall sein. Wie Amlinger und Nachtwey sorgfältig herausarbeiten, ist all das Folge von gesellschaftlichen Entwicklungen der Spätmoderne. Sie zu ignorieren oder als harmlos abzutun, wäre fatal.
Pia Lamberty, Katharina Nocun – Gefährlicher Glaube (Quadriga, 2022)
In der Pandemie wurde es mehr als offensichtlich, aber das Phänomen ist schon deutlich älter. Esoterik, also das „geheime“ aber gut verkäufliche Wissen um die „wahren“ Gründe, wie die Welt funktioniert, ist kein harmloser Spinnkram. Schon lange nicht mehr und schon gar nicht in Deutschland, wo Esoterik eine lange Tradition hat, die immer wieder in den kulturellen Mainstream wirken konnte. Heute ist Esoterik eine lobbygestützte Großindustrie mit immensen Ressourcen, der es im Fall der Homöopathie sogar gelungen ist – gegen jede Evidenz – vom Solidarsystem der gesetzlichen Krankenkassen zu profitieren. Auch andere esoterische Angebote an Heilung, Spiritualität und Lebensführung werden in Mainstream-Medien verkauft und beworben, Zielgruppe sind vor allem Mädchen und Frauen.
Das funktioniert exzellent. Denn in Gesellschaften, in denen es Sexismus und strukturelle Benachteiligung gibt, bieten die esoterischen Angebote – wiederum gegen jede Evidenz – einen einfachen, vermeintlich anstrengungsarmen Ausweg nach innen an und stehen zudem noch oft jeder Art von emanzipatorischen feministischen Anliegen entgegen. Und die raunend hervorgebrachte Behauptung, dass es sich hier um Geheimwissen handelt, das nur einer ausgewählten und eingeweihten Elite zugänglich ist, macht es für alle Arten rechtsautoritärer Populist:innen zu einem effektiven Werkzeug. Einerseits, weil sich das esoterische Gedankengut teilweise mit Weltanschauungen deckt, die mit allgemein akzeptierten Methoden der Arbeit am Ego operieren, wie etwa Lebenshilfe/Selbsthilfe, Selbstoptimierung oder holistisches Denken und allgemeine nichtreligiöse Spiritualität. Andererseits, weil die kognitiven Grundlagen der Esoterik, die Wahrnehmungsverzerrungen und Selbstbestätigungs-Feedbackschleifen eine Art von schmeichlerischer Selbstüberhöhung ermöglichen, die relativ breit akzeptiert ist und Harmlosigkeit suggeriert.
Dass dem nicht so ist, warum und wie das Ausblenden der offensichtlich abstrusen und antidemokratischen Teile dieser Gedankenwelt so gut funktioniert, zeigen die Antisemitismusforscherin Pia Lamberty und die Journalistin Katharina Nocun in ihrem dritten gemeinsamen Buch sehr deutlich – an vielen gut recherchierten Beispielen aus den finsteren Ecken der Esoterik, unterfüttert und rationalisiert von medizinischen und psychologischen und Metastudien. Mit besonderem Augenmerk auf genau die kognitiven Verzerrungseffekte und die wirkmächtige Sozialpsychologie, die uns alle für Esoterik anfällig machen. Das fängt bei vermeintlich harmlosen Begriffsbildungen wie „ganzheitlich“ oder „Schulmedizin“ an. Begriffe, mit denen suggeriert wird, dass es eine bessere, weniger abstrakt-anonyme und daher menschlichere, „natürlichere“ (gerne auch „germanischere“) Alternative zur evidenzbasierten und naturwissenschaftlich-fundierten, falsifizierten Medizin (und Ernährung und Psychologie etc.) gäbe. Eine, die es nicht nötig hat, ihre Wirksamkeit beweisen zu müssen. Oft ist nicht mal Äskulaps erstes Prinzip (keinen Schaden anrichten) erfüllt. Zudem hat gerade die „Schulmedizin“ einen deutlich antisemitischen Unterton, wie etwa Begriffe der Theosophie, Anthroposophie und Biodynamik. Wem also das nächste Mal im Biosupermarkt ein Barcode mit einem Querstrich oder einer liegenden Acht als Wasserzeichen begegnet, wer im Regal ein Markenzeichen für biodynamische Landwirtschaft sieht, sollte sich eventuell fragen, ob es nur harmloser Quatsch ist, der niemand schadet, wenn die Möhren durch ein Kuhdung-befülltes Rinderhorn mit „kosmischer Energie“ aufgeladen wurden, oder ob man mit dem Kauf solcher Produkte eine Ideologie unterstützt, die einer demokratischen liberalen Gesellschaft diametral und oft radikal und gewaltbereit entgegen steht.
Philipp Staab – Anpassung (Edition Suhrkamp, 2022)
Von der Selbstentfaltung zur Selbsterhaltung. In seinem jüngsten Buch untersucht der Berliner Soziologen Philipp Staab die populäre Diagnose, dass es den kommenden Generationen (zumindest im globalen Norden) nicht mehr in erster Linie um Freiheiten und Selbstverwirklichung gehen wird, sondern dass diese vermehrt einem eigentlich bereits überwunden geglaubten Anpassungsdruck unterworfen sein werden – oder es bereits sind: in einer post-postmodernen Gesamtlage aus kollabierenden Ökosystemen, autoritärer Politik und algorithmischer Kontrolle. Eine Lebensführung, die sich vom Fortschrittsdenken der Moderne abwendet und erstmal nur reagiert, in nicht- oder anti-modernen Gemeinschaften, die von technokratischer Lösungspragmatik charakterisiert sind. Als adaptive Lebensführung und letzte Möglichkeit in einer Welt zu leben, die noch für alle bewohnbar ist (nach Bruno Latour das eine und einzige Kriterium für eine „Neue Universalität“).
Das Argument, das Staab dafür gibt, ist nicht nur, dass der ideologische Individualismus und die Möglichkeit, grundsätzliche Kritik am Status Quo auszuüben, einem technologischen Machbarkeits-Diktum untergeordnet werden. Das eigentliche Problem wird voraussichtlich eher darin liegen, dass es in einer Gesellschaft, die auf hochtechnisierte Pragmatik und Anpassung als Voraussetzung für Protektion setzt, so etwas wie Demokratie eventuell nicht mehr „systemrelevant“ sein wird. Eine Reihe von Indizien sieht Staab dabei schon in der heutigen Zeit. Wo Anpassung einmal eine „Verliererpraxis“ war, wird sie zum neuen Überlebensimperativ für alle. Statt Sinnorientierung gibt es dann eben Motivationsmanagement. Wie sich diese neue Anpassungspragmatik dann real ausformt, ist offen. Wird es eine erweiterte, verallgemeinerte, neoliberale Sachzwangpolitik, ein technologiegestütztes autoritäres oder sogar totalitäres Kontrollregime? Oder ein spielerischer „Star Trek“-Kommunismus, in dem alle freiwillig an der und für die Gesellschaft arbeiten? Gemeinsam wäre allen der Zwang zur Selbsterhaltung.