Hängengeblieben 2017Unser großer Jahresrückblick

Hängengeblieben 2017 - lede

So. Wie war denn nun das Jahr 2017? Besser oder schlechter als die letzten beiden oder hat man es sich bereits in den postfaktischen Trump-AfD-Neonazi-Zeiten nischig bequem gemacht? Wie auch die letzten Jahre gibt es dieses Jahr den großen Das-Filter-Jahresrückblick. Was ist hängengeblieben von 2017? Wie immer subjektiv, perspektivisch und independent erklären unsere Autoren und Redakteure, was ging in den Bereichen Musik, Kultur, Technik, Gesellschaft und Medien. Auf ein gutes 2018. Euer Das-Filter-Team.

Hängengeblieben 2017 - 280

Bild: @JamesMelville | Twitter

280

Tiere, die ihr Leben in Gefangenschaft verbracht haben und dann freigelassen werden, haben oft Probleme, mit ihrer neuen Freiheit klarzukommen. Sie haben sie ja nicht gelernt. Als Twitter endlich das Zeichenlimit von 140 auf 280 erweiterte, war die Freude groß. Aber ähnlich wie bei Tieren hatte man kaum das Gefühl, als würde sich irgendwas groß verändern. Eher im Gegenteil. Knackige Pointen verwässern, Marken haben nun (endlich) genug Platz für Promotion mit vollständigen Produktnamen und Donald Trump rantet weiterhin unübersichtliche Mehrteiler. Nicht mal der hat es geschnallt. Aber wer nix richtig zu sagen hat, dem bringt auch der doppelte Platz nichts. Ist bei Twitter nicht anders als anderswo auf der Welt.

Ji-Hun Kim

Angst

Wenn John Cage sich wunderte, warum Menschen Angst vor neuen Ideen haben, er hingegen aber die alten fürchtete, sind wir mitten beim Thema: Angst. Oder besser deren Zurschaustellung. In früheren Zeiten wohlwollend als medizinisch zu behandelnder Gemütszustand betrachtet, scheint in der jüngeren Vergangenheit die Heilung weniger angestrebt als vielmehr den angsterfüllten Status Quo zu halten. Die Hilflosigkeit reizt vermeintlich zum Verbleib in diesem Gefüge, das Opfer möchte Opfer bleiben und dies laut herausschreien. In einer Zeit grenzenlos optimierter Datenverbreitung sucht das geschundene Tier nach Verbündeten – atemberaubend, wie sich in diesem Zusammenhang die Geschwindigkeit des Netzes mit massensammelnder Hysterie zu einer ohrenbetäubenden Stampede verdichtet. Nix Neues soweit? Glüht gerade wirklich an jeder Ecke ein neuer Topf auf, mit wütend herausquellenden Themen und Thesen? Zieht man an dieser Stelle die individuelle Trennlinie zwischen zu befürwortenden Standpunkten und den weniger verständlichen bis obskuren Theorien, rasselt sich die Welt en gros zum fahnenschwingend kämpferischen Aufbruch. Toilettennutzung, Artensterben, Düngemittel, Fleisch, mit den schon etwas älteren Positionen Waffen, Migration, Kapitalismus, Sexismus und Rassismus irgendwo im Mittelfeld, Bahnhöfe, Flughäfen oder Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor sind irgendwo auch noch dabei. Die Zeit, in der man gegen den Vietnamkrieg auf die Straße ging oder gegen Atomkraft demonstrierte, wirken dagegen wundersam friedlich und überschaubar. Dazu noch, auf allen wimpelschwingenden Stangen, die Moral. Verbunden mit der Angst zwei eng umschlungene und äußerst gefährliche Weggefährten. „Bist du nicht mein Freund, bist du mein Feind“ ist der neue Sex. Die Zeit des vermittelnden Gespräches scheint vorüber. Die Gemüter sind erhitzt, der Planet brennt. Kommen da noch die zu erwartenden zwei bis drei Grad Erderwärmung hinzu, explodiert der Kessel. Spannend eigentlich, aber gefährlich.

Martin Raabenstein

Anti-Terror-Autos

Am 21. März 2019 verkündet die EU gemeinsam mit Wirtschaftsvertretern von Daimler, Audi, Tesla, Google und Lyft die „Autonomous Agenda 2025“. Autos sind spätestens seit Nizza, dem Berliner Breitscheidplatz, London und Melbourne zur Class-A-Terrorwaffe aufgestiegen. Aber erst mit dem Dreifach-Truck-Attentat auf den New Yorker Times Square im Januar 2019, bei dem mehr als hundert Menschen zu Tode kamen, beschlossen Regierungen und Automobilindustrie: Das autonome Auto muss so schnell wie möglich kommen. Denn Sensoren und AI sind mittlerweile so weit entwickelt, dass frontale Fahrten auf Menschenmengen oder abseits der Straßen zu 99,9 Prozent ausgeschlossen werden können. 2025 sollen daher die ersten europäischen Städte voll autonom fahren. Sicherheit und Schutz vor Terror gehen vor. Altmodische, selbstgesteuerte Autos dürfen nur noch auf dem Land selbst gefahren werden. Autofahren wird immer mehr zum Segeln und Reiten des 21. Jahrhunderts. Wer es sich leisten kann, fährt am Sonntag seinen SL in der Heide aus. In der Stadt wird jedes Auto mit einer eigenen digitalen ID ausgestattet. Fahrer müssen sich vor jeder Fahrt ebenfalls elektronisch authentifizieren. Die Gesichtserkennung soll Apple beisteuern. Man beschließt eine Datenspeicherungsfrist von mindestens 18 Monaten. Jede Route, jede Bewegung, jede Passagierkonstellation soll für den Zeitraum für die Terrorbekämpfung gespeichert werden. „Ein wichtiger Schritt zu einer besseren Gesellschaft“, erklärt Angela Merkel, Nachfolgerin des überraschend verstorbenen Matthias Wissmann, dem Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), „in diesem Leuchtturmprojekt beweist die deutsche Automobilindustrie und unsere politische Weitsicht, dass es eine gemeinsame Zukunft von Autos und Menschen geben kann. Dieses Neuland wird unser Land.“

Ji-Hun Kim

Hängengeblieben – Bildvergleiche

Bildvergleiche

Die (fotografische) Gegenüberstellung, der Bildvergleich, ist in der Kunstgeschichte und -wissenschaft ein wesentliches Instrument, um einzelne, formale Merkmale eines Kunstwerkes herauszuarbeiten und in der Gegenüberstellung mehr erfahren zu können, als es mit der alleinigen Betrachtung möglich gewesen wäre. Im Meme-Katalog ist dieses vor allem als „Expectation vs. Reality“ (mit den Untergruppen „Craft, Cooking and Make-Up Fails“) bekannt, die Komik entsteht auch hier erst im Bildvergleich. Zu Beginn des Jahres 2017 fand Donald Trumps Amtseinführungsfeier statt, ein Fotopaar ging um die Welt: Ein Bild von Obamas Amtseinführung im Jahr 2009 zeigt nämlich viel mehr Besucher und Besucherinnen als bei Trumps Feier. Der damalige Trump-Pressesprecher Sean Spicer echauffierte sich über die falsche Medienberichterstattung und insistierte „the largest audience ever to witness an inauguration, period, both in person and around the globe“. Später prägte Trump-Beraterin Kellyanne Conway in einem Interview über die falsche Darstellung der Besucherzahlen einen berühmten Terminus: „Our press secretary, Sean Spicer, gave alternative facts to [these claims].“

Susann Massute

Hängengeblieben 2017 - Bims

Bild: Hannes Grobe | CC BY-SA 2.5

Bims

Bims oder Bimsstein (über ahd. pumiȥ / bumeȥ [ˈpumiȥ] aus dem lat. pūmex, pūmicis m.) ist ein poröses glasiges Vulkangestein, dessen Dichte aufgrund der zahlreichen Poren, die einen wesentlichen Teil des Volumens ausmachen, kleiner als die von Wasser ist, was bedeutet, dass Bims in Wasser schwimmt. Seine Farbe kann stark variieren: Bims aus basaltischer Lava mit großen Blasen ist nahezu schwarz, mit zunehmendem Luftgehalt und abnehmender Blasengröße wird die Farbe heller, so dass auch nahezu weißer Bims möglich ist (etwa im Norden von Lipari oder auch auf Stromboli), sowie sämtliche Zwischentöne (etwa Gelb-Grau). Eventuell die Porengrenzen durchdringend können (auch bunte) Einlagerungen wie vong vulkanisches Glas und Kristalle vorkommen. (Wikipedia)

Blade Runner 2049 (1 / 2 – Der Film)

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1982 kam Ridley Scotts Blade Runner in die Kinos und setzte neue Maßstäbe im Genre der Neo-Noir-Science-Fiction. Obwohl er damals nach wenigen Wochen aus den Lichtspielhäusern verschwunden war, wurde der Film schließlich Kult. Satte 35 Jahre später bekommen die Fans mit Blade Runner 2049 endlich die seit langem geplante Fortsetzung. Und die überzeugt gleich auf mehreren Ebenen. Stimmung, Set Design und Erzähltempo erinnern stark an den ersten Teil, ohne dabei zur müden Kopie abzuflachen; Blade-Runner-Enthusiasten dürfen sich also von den ersten Minuten an zu Hause fühlen. Das ist auch gut so, denn mit seinen 164 Minuten ist der Film wahrlich kein kurzes Vergnügen. Ohne die Story zu spoilern, darf man sagen, dass viele gekonnt geknüpfte Verbindungen zur Handlung des Vorgängers bestehen, bis hin zu den falschen Fährten, auf die der Protagonist des Films und auch die Zuschauer geführt werden. Wir halten fest: Das Team um Regisseur Denis Villeneuve (Sicario) und Executive Producer Ridley Scott hat einen Film abgeliefert, der in der Flut mäßiger Sequels (wie z.B. Alien: Covenant) eine lobens- und sehenswerte Ausnahme darstellt. Wie sein Vorgänger blieb er im Einspielergebnis deutlich hinter den Erwartungen zurück; aber wie schon der erste Teil hat auch er das Zeug, zum Kultklassiker für SciFi-Junkies zu werden.

Hendrik Kettler

Blade Runner 2049 (2 / 2 – Die Musik)

Einer der Hauptgründe, warum ich mich persönlich so auf die Fortsetzung von Blade Runner gefreut hatte, war die Musik, die uns versprochen wurde. Der Soundtrack sollte von Jóhann Jóhannsson komponiert werden, der für Regisseur Denis Villeneuve ja schon viele Vertonungen gemacht hatte. Mit Jóhannsson an Bord war mir der Film als solcher plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Wenn er mir nicht gefällt, so dachte ich mir, mache ich im Kino einfach die Augen zu und warte auf das nächste Grollen, das der Isländer in seinem Berliner Studio erdacht hat. Doch es kam anders. Ich war nicht im Kino. Denn Jóhannsonn wurde in zwei Schritten aus der Produktion des Films rausgekickt. Die wahren Gründe dafür kennen nach wie vor nur Jóhannsson, Villeneuve und ein paar Controller. Das offizielle Statement ist wischiwaschi und passt so gar nicht in das lange Vertrauensverhältnis von Villeneuve und Jóhannsson. Man könnte natürlich Zimmer fragen, der den Soundtrack zusammen mit Benjamin Wallfisch in wenigen Wochen runtergeschrubbt hat. Zugegeben: Es gibt wenige Komponisten, die sowas zustande bekommen. Der ausschlaggebender Grund dürfte aber gewesen sein, dass Zimmer tatsächlich noch einen Yamaha CS-80 im Keller hatte, den Synthesizer, mit dem Vangelis die Musik für das Original komponierte, ein unbezahlbares Ungetüm. Den Synth gibt es zwar seit vielen Jahren schon als PlugIn, aber das wäre wohl nicht authentisch genug gewesen. So war ich also nicht im Kino. Den Soundtrack habe ich mir aber angehört. Keine Größe, keine Tiefe, kein gar nichts, höchstens eine verklausulierte Aneinanderreihungen eklatanter Remix-Missverständnisse. Wie sagt Deckart im Original? „Replicants are like any other machine. They're either a benefit or a hazard. If they're a benefit, it's not my problem.“. Der Soundtrack von Zimmer und Wallfisch ist ein Replikant. Und eine der größten Gefahren, die 2017 in der Musikwelt lauerten. Also Deckart: Du weißt, was zu tun ist. Mein Plan für 2018 ist derweil: Jóhannsson vor der Wohnungstür abpassen, ihn betrunken machen, ihm das Master-Tape abluchsen und einen Bootleg des eigentlichen Soundtracks pressen.

Thaddeus Herrmann

Hängengeblieben 2017 - Manson

Bild: By California Department of Corrections and Rehabilitation ([1]) [Public domain], via Wikimedia Commons

Charles Manson

Was haben Che Guevara und Charles Manson gemeinsam? Auf den ersten Blick sicher nicht so viel. Und doch sind beide zu Pop-Ikonen geworden, deren charakteristische Gesichter auf zahllosen T-Shirts, Postern, Plattencovern, in Filmen, Dokumentationen und Rocksongs verewigt und vermarktet wurden. Wobei das Tragen eines Manson-Shirts sicher schon immer das provokantere Statement war. Aber auch das bessere? Wohl kaum. An diesem Punkt stellt sich zu Recht die Frage, wie ein verurteilter Krimineller wie Charles Manson einen solchen Grad an Popularität erlangen konnte. Allein mit der Faszination des Abnormen ist das sicher nicht zu erklären: Sein Weg zum Symbol des Bösen, zum bürgerlichen Albtraum (und damit auch zur veritablen Merchandising-Figur) ist im zeitlichen Kontext zu sehen. Als Anführer und Guru seines „Manson-Clans“ machte er sich die Popkultur der Sechzigerjahre für seine Zwecke zunutze – und wurde so selbst zu einem Teil von ihr. So griff er zum Beispiel den Beatles-Song „Helter Skelter“ auf, den er als Aufforderung zur Entfachung eines apokalyptischen Rassenkriegs sah. Manson saß seit 1971 wegen der zwei Jahre zuvor verübten Morde an Roman Polanskis Frau Sharon Tate, den Eheleuten LaBianca und vier weiteren Personen im California State Prison von Corcoran. Dabei hat er wohl nie durch eigene Hand einen Menschen umgebracht. Stattdessen hatte er seine hörigen Jünger dazu angestiftet, die Taten auszuführen, die dafür ihrerseits ins Gefängnis gingen. Manson selbst leugnete zeitlebens jede Beteiligung oder gar Mitschuld an den grausamen Morden. Er starb am 19. November in Bakersfield, Kalifornien. Bis zuletzt erhielt er jedes Jahr mehrere Tausend Fanbriefe.

Hendrik Kettler

Hängengeblieben 2017 - Colette

Bild: Twitter

Colette

1997 eröffnete Colette Roussaux mit ihrer Tochter Sarah Andelman im 1. Pariser Arrondissement einen Concept Store oder – viel treffender – die Mutter aller Concept Stores: Bei Colette lag der billigste BIC-Kugelschreiber neben Saint Laurent und seinesgleichen, lange bevor sich die Streetstyler von Vetements einen stabiloähnlichen Highlighter unter den Damenschuh schnallten. Während Mama in den Regalen und Schaufenstern die Trends setzte, sorgte Andelman als Creative Director mit zahlreichen Kollaborationen für unglaubliche Headlines: So kam McDonald’s tatsächlich zu einer Capsule Collection, ausgerechnet Aston Martin zu einem Car2Go-Lookalike und die brandneue Apple Watch nach ihrem Debüt in Cupertino zuallererst in die Rue Saint Honoré. Von all den limitieren Sneaker-Editionen und den Playlists, die einen Besuch im Online-Shop untermalten, reden wir erst gar nicht. Bei Colette wurden zweifelsohne Exklusivität und Hype neu definiert – und hier spielten Marken mit, denen man es niemals zugetraut hätte. Sehr schade also, dass die Namensgeberin einfach nicht mehr will und die Boutique inklusive Water Bar, in der man sich zur Abwechslung nicht mit Champagner, sondern mit über 100 verschiedenen Sorten Wasser aus der Flasche betrinken konnte, am 20. Dezember 2017 nach 20 Jahren für immer geschlossen hat.

Jasmin Tomschi

Hängengeblieben 2017 - Convenience

GIF via Youtube

Convenience

Neulich kegelten sich in der Dunkelheit eines Samstagsabends unter feinstem Nieselregen ein Foodora-Express und ein Prime-Now-Fahrer von Amazon vor meinen Augen fast gegenseitig um. Es ging gerade nochmal gut – ob der Bacon auf dem Burger in der Warmhaltetasche des Lieferfahrers verrutschte, ist nicht überliefert. Es war kurz vor 22 Uhr. Dass zu dieser Zeit die Amazon-Sklaven immer noch in ihren rostigen Miet-Vans durch die Stadt kurven und ’ne Cola, drei Bier und eine frische Zahnbürste liefern, wusste ich zwar – den Stress und die Überforderung hatte ich aber noch nie in echt erlebt. Beides strahlte so hell, dass es selbst des Nachts bis in die letzte Schweißperle deutlich zu erkennen war. Es ist doch so: Nicht der Feinstaub, den diese Diesel rausblasen, wird uns eines Tages umbringen, sondern unsere Sucht nach Convenience. Es gibt Dinge, die gehen zwar, sind in unserem gesellschaftlichen Miteinander aber nicht abbildbar. Zahnbürsten gibt’s bei Rossmann. Cola und Bier beim Späti, Burger im Burger-Laden. Bitte merken und die Amazon-App nicht herunterladen.

Thaddeus Herrmann

DarkStar

Polleschs Abschiedsstück an der Volksbühne „Dark Star“ habe ich leider verpasst, weil ich, obwohl glücklicher Besitzer einer Karte, in Köln feststeckte, da in Deutschland aufgrund eines sommerlichen Unwetters der Ausnahmezustand ausgebrochen war und mein ICE sich mit knapp 24-stündiger Verspätung in Richtung Berlin auf den Weg machte. Trotzdem gab es, wie bei so vielen anderen auch, bei mir 2017 noch einmal Polleschs Diskurstheater satt. Meine persönliche Abschlusstournee bestand aus: „Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte“, der Rockoper, zu welcher Toco-Dirk die Songs beisteuerte; „Service / No Service“; „Keiner findet sich schön“ und „Kill your Darlings“ mit dem genau wie ich arg in Nostalgie schwelgenden Fabian Hinrichs. Jetzt ist es also vorbei mit Castorf und Pollesch – zumindest am Rosa-Luxemburg-Platz. Vorher war es noch einmal an der „alten“ Volksbühne – wie eigentlich immer. Provokant, ironisch, (kapitalismus)kritisch, smart, philosophisch, wild, innovativ, phasenweise zu schwer, phasenweise zu einfach, nicht immer textsicher, ein wenig hängengeblieben und immer inspirierend.

Tim Schenkl

Engagament

Eine junge rumänische Frau im Einkaufszentrum. Ich kenne sie, weil sie die Straßenzeitung anbietet. „Ich bin krank – Blasenentzündung“, sagt sie in holprigem Deutsch, und: „Aber keinen Arzt, keine Versicherung“. Ich erzähle ihr von einer Ärztin, die in Berlin ein Sozialzentrum eingerichtet hat. In ihre Praxis kommen Arme, Obdachlose, Flüchtlinge. Menschen, die ihre Versicherung nicht mehr zahlen können, weil sie hoch verschuldet sind. Jenny de la Torre heißt die Ärztin. Sie behandelt alle, die in Not sind. Die Frau mit der Blasenentzündung war bei ihr. Sie ist jetzt wieder okay und bedankt sich bei mir für den Hinweis. Ich kenne einige dieser Arztpraxen, Caritas-Ambulanzen und mobilen Hilfezentren. In Suppenküchen, Kleiderkammern und Notübernachtungen bieten hunderte Menschen ehrenamtlich denen Hilfe an, die am untersten Ende der Gesellschaft angekommen sind. Die Helfer tun das freiwillig und in ihrer Freizeit. „Ich sehe die unglaubliche Not, mir geht es gut, da muss ich doch was tun“, sagt Helga, die in der Bahnhofsmission Brote für Obdachlose schmiert. Mehrmals in der Woche und – wie sie sagt – „mit großer Freude“. Und tatsächlich: Sozialarbeit funktioniert. Aber nur, weil Hunderte Menschen freiwillig arbeiten. Ehrenamt nennt man das. „Aber ist es eine Ehre, für null zu arbeiten?“, fragen immer mehr dieser Helfer. Außerdem: Das Elend wird trotzdem größer. Von Jahr zu Jahr wächst die Zahl der Armen. Da vergeht so manchem freiwilligen Helfer die Lust auf sein Ehrenamt. „Was tun eigentlich die Politiker?“, fragen sie zunehmend. Ich frage mich das auch. Und trotzdem bewundere ich jene Helfer, die einfach da sind und weiter machen. Franziska zum Beispiel: Eine Friseurin, die in der Bahnhofsmission obdachlosen Menschen die Haare schneidet. Ehrenamtlich und umsonst natürlich. „Obdachlose wollen doch auch schöne Haare haben“, lacht sie. Beim Frisieren erfährt sie von ihren Sorgen und Problemen. „Ich höre zu und denke: Franziska, du machst das Richtige“.

Monika Herrmann

Facebook

„Wir sehen vor allem die Datensammlung außerhalb des sozialen Netzwerks von Facebook und ihre Zusammenführung mit dem Facebook-Konto als problematisch an. (...) Wir sehen nach dem jetzigen Stand der Dinge auch nicht, dass zu diesem Verhalten von Facebook, dem Daten-Tracking und der Zusammenführung mit dem Facebook-Konto, eine wirksame Einwilligung der Nutzer vorliegt. Das Ausmaß und die Ausgestaltung der Datensammlung verstößt gegen zwingende europäische Datenschutzwertungen.“

Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamtes – Stellungnahme vom 19. Dezember 2017

netscape windows gif

Glasfaserausbau

Dass Geflüchtete Smartphones besitzen (in den letzten Jahren immer wieder hinreichend thematisiert), daran haben sich 2017 auch die wütendsten Bürger/innen gewöhnt. Ob sich aber die Geflüchteten wohl daran gewöhnen konnten, im Land des europaweit langsamsten Internets zu leben? Dieses Jahr stellte eine Vergleichsstudie der Bertelsmann Stiftung fest: Deutschland fährt auf der Kriechspur der internationalen Datenautobahn. Beim Ausbau des Glasfasernetzes mangele es an Mut, politischer Strategie und Förderprogrammen. Da grüßt wieder einmal die deutsche Leitkultur, frei nach der preußischen Tugend der Zurückhaltung: Wollen wir doch erst einmal sehen, ob sich das überhaupt durchsetzt, dieses Internet. Im ländlichen Raum beträgt die Versorgung mit Glasfaseranschlüssen gerade einmal 1,4% und im niedersächsischen Heimatdorf der Autorin wird bis Jahresende darüber abgestimmt, ob überhaupt jemand Bedarf hat: Wer zukünftig vom schnellen Internet profitieren möchte, muss als Vorschuss einen Zweijahresvertrag mit der örtlichen Netzpächterin abschließen. Erst wenn über 60 Prozent, mancherorts reichen 40 Prozent der Haushalte sich verbindlich anmelden, wird die Glasfaser verlegt. Mit Blick auf die Demografie ist die Prognose jedoch leicht gestellt, denn selbstverständlich möchten Elfriede und Karl-Heinz monatlich keine 50 Euro für etwas bezahlen, das sie nicht zwingend brauchen. Da hilft leider auch keine Anpreisung von E-Health oder das schönste Argument des Vorvermarktungsprogramms: „Ihre Enkelkinder besuchen Sie häufiger und länger, weil sie bei Ihnen surfen können.“ Andererseits wäre es ja auch schade um Norddeutschlands schönsten Standort für Digital Detox.

Vanessa Oberin

GLOW

Netflix habe ich pünktlich zum Jahreswechsel gekündigt, weil es ja wohl nicht angehen kann, sich von dieser unablässig wachsenden Liste qualitativ herausragender Film- und Serienproduktionen ständig vor sich hertreiben zu lassen. Allerdings nicht ohne schnell noch was wegzugucken. GLOW zum Beispiel, eine äußerst amüsante und kompakte Komödie in zehn Teilen über eine bunte Riege von Outcasts, die eine Damen-Wrestling-Show für’s Achtziger-Jahre-Fernsehen auf die Beine stellen. Im Mittelpunkt der „Glorious Women of Wrestling“ steht Alison Brie als ambitionierte aber erfolglose Schauspielerin Ruth, die ihre hochfliegenden Träume von Theaterruhm gegen eine Rolle als heel im Schaukampftrash eintauscht. Schwer charmant, das Ganze. Findet im Lycra-Kitsch einige schroffe Lebensweisheiten und pendelt elegant zwischen Drama und Komik. Also genau das Gegenteil von Stranger Things, das niedlich und fieser Horror gleichzeitig sein will und ob dieser Dissonanz flach aufs Gesicht fällt. Und dann verplempern die da auch noch einen völlig intakten Paul Reiser in so einer öden Rolle! Unverzeihlich, sowas.

Alexander Buchholz

Gotham

Jeder halbwegs erfolgreichen Geschichte wird ein Prequel hintan gesetzt, so funktioniert der Markt. Mit unterschiedlich erfreulichen Ergebnissen. Ob nun bei „Star Wars“, „Alien“ oder „Hannibal“: Wenn genreübergreifend an deiner Geldbörse gezupft wird, warum sich nicht auch an Batman wagen? Seit 2014 on air ist die Serie „Gotham“, seit September in der vierten Season, auf Deutsch sind drei Staffeln erhältlich. An der Idee, Batman und desgleichen Pinguin, Riddler, Poison Ivy oder Catwoman auf ihrem Weg zu dem zu begleiten, wie wir sie kennen, wäre zunächst nicht weiter erwähnenswert. Der Drehbuchautor Bruno Heller hingegen, zuvor für Serien wie „Rom“ und „The Mentalist“ verantwortlich, verhilft der Idee des Comics zu ursprünglicher Größe, indem er die wahren Stärken des Mediums nutzt. Hier geht es nicht um einen eigentlich ganz normalen Jungen mit etwas Spucke an den Händen, wie in der kläglichen „The Amazing Spider-Man“-Serie. Heller befreit seine Protagonisten von ihrem allzu einschränkenden Realitätsbezug und flutet den Bildschirm mit albernen, brutalen, schnellen, überraschenden Ideen. Das ist Comic pur. Zu lange in die Popcorn-Tüte gelinst, schon wieder alles verpasst? Genau, das kann hier schon mal passieren. Rewind! Großes Kino. Bang.

Martin Raabenstein

Hängengeblieben 2017 - Horizon Zero Dawn

Bild: Guerrilla Games | Horizon Zero Dawn

Horizon Zero Dawn

Im Frühjahr erschien das Action-Rollenspiel „Horizon Zero Dawn“ des holländischen Entwicklerstudios Guerilla Games. Ein post-postapokalyptisches Szenario in der fernen Zukunft, in der die Menschheit schon mehrfach ausgelöscht wurde und der Planet nun von mysteriösen Roboter-Dinosauriern bevölkert wird. Das Spiel macht vieles richtig. Nicht nur die unfassbar beeindruckenden Welten und Grafiken, sondern auch die starke Protagonistin Aloy zeigen, dass Games nicht immer nur muskelbepackte, maskulinistische Testosteron-Abspritzsessions sein müssen. In der Welt von „Horizon Zero Dawn“ sind Götter Mütter. Frauen sind die mächtigen Personen der Clans und die Menschen divers und emanzipiert. Die Lektion? Wenn für so eine Gesellschaft ein Weltuntergang vonnöten ist – go for it!

Ji-Hun Kim

Hollywood

Zur Zeit hat Hollywood viele Probleme: Weinstein, Spacey und Co. Es gibt derweil viele mahnende Finger und Solidaritäts-Hashtags, die man zeigen kann und wenn auch alle kollektive Besserung geloben – es gibt gerade noch viel mehr Dinge, die suboptimal laufen. Was nämlich so gut wie untergegangen ist, ist die Tatsache, dass die sonst so wichtige Sommersaison in Hollywood 2017 die schlechteste seit 20 Jahren gewesen ist. Gründe kann man hierfür viele finden. Flammkuchendünn ausgewalzte Franchise-Konzepte ohne große neue Geschichten. Ein Aufguss nach dem anderen (wer zur Hölle braucht „Jumanji“?). Vermeintlich durchkalkulierte, Controller-optimierte Erfolgsstrategien. Regisseure, Produzenten und andere wichtige Protagonisten wie Komponisten werden während der Dreharbeiten wie Fußballtrainer ausgetauscht (das hätte man mal mit Spielberg, Kubrick oder Coppola in den Siebziger- und Achtzigerjahren probieren sollen). Ergo: Hollywood funktioniert heute wie Volkswagen. Groß, zäh, träge und teflon-defensiv. Too big to fail, aber irgendwie auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Der Kunde und die Innovation stehen an zweiter Stelle. Die zehn erfolgreichsten Filme des Jahres sind alles Franchise-Titel und Remakes (Marvel, Star Wars, Disney, DC u.a.). Erst auf Platz zwölf taucht „Dunkirk“ von Christopher Nolan auf. Auch der ist leider alles andere als gut. Gute globale Unterhaltung sieht irgendwie anders aus.

Ji-Hun Kim

Insektensterben

Hängengeblieben 2017 - Insektensterben

Foto: Netflix

„Wir wollen, dass (…) jede Biene und jeder Schmetterling und jeder Vogel in diesem Land weiß: Wir werden uns weiter für sie einsetzen“, ließ Katrin Göring-Eckardt auf dem Grünen-Parteitag Ende November in Berlin verlauten und sie erntete dafür kaum mehr als Spott. Dabei wurde gerade erst das Ergebnis einer 27 Jahre andauernden Studie ehrenamtlicher Insektenkundler bekannt: Die Biomasse der Fluginsekten ist in Deutschland um 75 Prozent zurückgegangen und die Gründe dafür werden in der intensiven Landwirtschaft mit ihren hohen Pestizideinsätzen vermutet. Zum Glück entwickelt man in Japan bereits bienenähnliche Mikrodrohnen zur künstlichen Bestäubung (auch bekannt aus der Serie „Black Mirror“) – da macht es dann auch nichts, wenn wir noch ein bisschen länger Glyphosat auf die Felder sprühen.

Vanessa Oberin

Das Kunstjahr

Hängengeblieben 2017 -  Kunstjahr

Bild: Arendt Mensing/artdoc.de

Wart ihr auf der Documenta in Kassel? Am parallelen Spielort in Athen auch nicht? Bei „Skulptur Projekte“ in Münster, der Biennale in Venedig? Ihr wisst schon, dass so ein super Kunstjahr nur alle zehn Jahre stattfindet, eine solch monumentale Darbietung euer künstlerisches Weltbild neu ordnet und eure tief empfundene Sehnsucht nach alternativen Szenarien zur aktuellen politischen Situation befriedigt? Nein? Vergesst die Bitcoin-Welle, sammelt Kunst, das bringt Money Money Money! Zu riskant, auch nur eine weitere Blase? Sehr gut, werdet selber Künstler! Es gibt so viel Interessantes zu tun, so unendliche Weiten zu entdecken, dafür braucht ihr kein Raumschiff. Macht die Augen auf, alles was ihr in eurer unmittelbaren Umgebung seht, wird zum Material. Nehmt einen Bleistift, brecht die Spitze ab und macht damit eine Zeichnung. Eine exakte Abbildung eurer als ungerecht empfundenen Realität wird entstehen. Die Speichen an eurem Fahrrad, nehmt sie heraus und hängt sie frei nach eurem individuellen Empfinden an die Wand. Sind sie nicht Sinnbild für den erschreckenden Terror des Bewegungszwangs, das Symbol eurer fremdgesteuerten Unterdrückung? Befreit euch von der Last eurer Kleidung. Geht nackt auf die Straße und performt den Tanz des ungeschorenen Schafes. Die Tiere werden es euch danken. Wenn ihr euch sicher fühlt, könnt ihr natürlich auch selbstständige Gedanken entwickeln. Wie, ihr möchtet nicht? Habt einen Plattenspieler gekauft und schon ein paar Scheiben in der Sammlung? Auch gut.

Martin Raabenstein

liste notizzettel

sardinista Beetroote via photopin (license)

Listen

Hat es sich 2017 endgültig ausgelistet? Charts werden wohl auch in Zukunft eine Rolle spielen. Aber man hat in den letzten Jahren festgestellt, dass jene absoluten „Die Besten des Jahres“-Clickbaitings auch viel kaputt machen können. Resident Advisor hat deshalb den Stecker gezogen und erstmalig auf die DJ-Label-Liveact-Polls verzichtet, wobei sie doch die vergangenen Jahre das Dance-Business genau damit definiert haben. Dixon, Kink, Âme – zahlreiche Künstler konnten ihre Jahresetats mit ihren Platzierungen auf der Bestenliste ziemlich gut kalkulieren. Für alle, die nicht in eine dieser Listen gelandet sind, sah es eher mau aus. Alle Festivals rühmten sich weltweit mit den immergleichen Lineups – nur eines blieb auf der Strecke: die Musik. Was resultierte, war letztendlich die pure Kapitalisierung einer angeblichen Szene. Ob der Move von RA (wieso überhaupt jetzt erst, ihr Flachpfeifen) noch etwas gerade rücken kann, was selbstverschuldet bereits in kaum reparable Schieflage geraten ist? Abwarten. Nur dieses Credwashing von wegen „Wir waren schon immer Underground und machen daher jetzt alles richtig“ lässt sich irgendwie nicht geschmackvoll an. Das ist wie ein zu später und halbherziger Atomausstieg – reine Politik. Mit Liebe zur Kunst hat das nichts zu tun. Die hätte man vorher schon beweisen müssen.

Ji-Hun Kim

Luxus

Jung, reich und schön, am besten noch berühmt: Man kann es niemandem verdenken, das gerne sein zu wollen. Wirklich? Wer räkelt sich nicht gerne zur Mittagszeit auf der Boxspringmatratze, wohlig warm unter leinener Bettwäsche, leicht angekatert nach einer weiteren fantastischen Nacht, in einer dieser fantastischen Metropolen, auf dieser fantastischen, so wohlhabenden, herrlichen Welt? Mit all diesen bezaubernden Menschen, die nur dazu geschaffen sind, dein Leben zu einer nicht enden wollenden Party zu machen? Ein kurzer Blick auf das Smartphone, noch keine Meldungen, die anderen jungen, reichen und schönen Berühmtheiten schlafen wohl noch. Dann der Roomservice, ein kurzer Anruf nur. Nochmal kurz in diese gottvolle Decke gekuschelt, schon halb am Wegdösen wieder, da kommt es schon, dein wohlverdientes Frühstück. Wird ja auch Zeit. Die Schnecken in Markknochenscheiben, sanft umrahmt von geräucherter Crème Fraîche, das Granola-Müsli, eine Kanne handgebrühter, frischer Kaffee, der Granatapfelsaft, selbst das Schälchen Sauerrahmbutter auf Eis lächelt dich an. Welch Glück auf Erden! Du greifst in das Körbchen, doch das Körbchen ist leer. Wo ist das Brötchen? Das leckere, frisch aus dem Ofen zu dir gekommene, im Mund knackige, dein Frühstück abrundende Sauerteigbrötchen? Du weißt es nicht? Wie sollst du auch: Neben dir, unter dir, in allen Zimmern, auf allen Etagen liegen deine Freunde, erwachen gerade oder träumen noch in seligem Schlaf. Und weil sie alle da so vor sich hinkuscheln, nun ja, ganz ehrlich – keiner will mehr dein Brötchen machen, wer ist denn auch so ein Nerd, die Nacht nicht zum Tag und sein Leben zur Dauerparty zu machen, wenn er denn kann. Wer stellt sich um vier Uhr morgens in die Backstube und mehlt sich zu. Du? Im Leben nicht. Also, vergiss dieses Lebensmittel heute und morgen auch. Keine Teigführung und ab ins Bett, wer braucht denn da noch so ein nebensächlich und erbärmliches Produkt wie ein Brötchen. Das verstehst du doch, oder?

Martin Raabenstein

Merkel

Es gibt Witze über ehemalige Staatsoberhäupter, die später einem Genussmittel zugeordnet wurden. Napoleons Cognac zum Beispiel oder auch Bismarck und der Hering. Da der Abgang Merkels weiterhin nicht auf der bundesdeutschen Agenda steht, verbleibt es auf unbestimmte Zeit ein süffisantes Rätsel, welcherart Viktualie diesem politischen Urgetüm zukünftig zur Seite gestellt werden könnte. Merkels Karriere und Wirken, rein analytisch betrachtet, lässt in dieser Richtung einiges vermuten. Eher unscheinbar im Auftritt, aber stark in der Behauptung. Verhalten in der Präsenz, aber dennoch in aller Munde: Alles deutet auf etwas Grundsätzliches denn slick Exquisites hin. Das „Filet Merkel“ ist hierbei undenkbar. Dass die Welt führerlos erscheint, wenn der Kanzlerins parteizermahlendes Werben für eine weitere Amtszeit den zukünftigen Koalitionär eher verschreckt als verlockt, treibt der internationalen Presse das karge Haupthaar in die Höhe. Interessiert sich die geneigte Öffentlichkeit in Paris und Madrid eher für die gelungene taktische Finesse der Machtpolitikerin, so deutet dies, entsprechend unserer speziellen Fragestellung, auf eine gewisse und ihr ganz eigene Manier hin. Ein altes Hausmittel nach der unschönen Verteilung von Rotwein auf den gerade neu verlegten Teppich bringt uns weiter auf die Spur. Man verwende Salz und streue es über den Unfallort. Dieses saugt den Traubensaft aus dem Au-Courant-Wohnaccessoire, dann der Staubsauger und weg der Fleck. Betrachtet man nun die Wahlergebnisse der jeweiligen Juniorparteien nach vierjähriger Paarung mit dieser Dame, stellen sich verblüffende Parallelen ein. Fort die Wählergunst, einfach aufgesaugt: So klein die verbleibende Zuneigung, so groß das Geheul. Das Ausland nimmt dies gelassen, Stabilität soll groß über dem Reichstag scheinen. Für eine politisch gesunde Diskussion ist dies gelinde gesagt fatal, das Merkel’sche Salz ruiniert dauerhaft die Suppe der anderen Mitbewerber, vom Verhalten gegenüber starken Persönlichkeiten in ihren eigenen Reihen ganz zu schweigen. Und wird dabei auch noch gefeiert. Mahlzeit.

Martin Raabenstein

#metoo

Wir sagen’s mal einfach, wie’s ist: Man muss keine Feministin sein, um verstehen zu können, warum Männer wie Harvey Weinstein respektlose Arschlöcher sind, die Frauen (oder andere Männer) tagein, tagaus in unzumutbare Situationen bringen – und die wahren Gentlemen da draußen obendrein noch richtig schlecht dastehen lassen. Der öffentliche Diskurs darüber, welche Einflussnahme – physisch oder psychisch – einem Mitmenschen gegenüber angebracht ist oder nicht, ist heute so laut wie noch nie: Das haben wir vielen mutigen Stimmen zu verdanken. All die Silence Breakers mit ihren ernüchternden Wahrheiten, für die sie so lange keine passende Plattform gefunden haben, hat das TIME-Magazin gerade im Kollektiv als Person of the Year 2017 gewürdigt. Hinzu kommt die Macht von Social Media und den Geschichten hinter Hashtags, die in Sekundenschnelle um die Welt gehen können. So einen teilte am 15. Oktober die US-Schauspielerin Alyssa Milano via Twitter und aus #metoo wurde eine Bewegung von und für Frauen, Männer und Jugendliche, die in ganz unterschiedlichen Formen mit sexueller Belästigung oder gar Vergewaltigung konfrontiert wurden. In jenem Moment, in dem dieser Text geschrieben wird, sind zwei Monate vergangen. Die Bilanz: rund 69.000 Replies, 25.000 Retweets, 60.000 Likes, fristlose Entlassungen einiger einflussreicher Männer und ein grenzenloses Zusammengehörigkeitsgefühl, das unsere Gesellschaft beim Umdenken wirklich gut gebrauchen kann.

Jasmin Tomschi

Hängengeblieben 2017 - mp3

.mp3

Mitte Mai beendete das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen das Lizenzprogramm für die MP3. Das war in punkto Faktenlage keine große Sache, bedeutete nur, dass der Codec nun frei ist. Das ist in Europa eh schon seit mehreren Jahren der Fall. Nur in den USA lief Ende April das letzte Patent aus. Doch die Symbolwirkung war maximal. Es wurde nicht gespart an Headlines, die den Tod samt offizieller Beerdigung des revolutionären Dateiformats zu verlautbaren gedachten. Es folgten die erwartbaren Relativierungen: Neeeeein, ein freier Codec bedeute nicht das Aus von .mp3 im Dateinamen hinter Artist und Songtitel. Rückblick: Die Erfolgsgeschichte des Audioformats ist zunächst auch eine des Filesharings. Die Dateigröße von einem Zehntel des üblichen Wave-Files der Audio-CD ermöglichte den Austausch von Musik im großen Stil durch den digitalen Äther. Die MP3 legte damit den Grundstein für die in den Nullerjahren anstehende Krise der Musikindustrie, dank Tauschbörsen wie Kazaa, Emule, Napster, später BitTorrent. Gleichwohl war die MP3 auch Grundlage für die Erfolgsgeschichte des tragbaren MP3-Players samt zugehöriger Peripherie, allen voran iPod mit iTunes und iTunes-Store. Der Store mit digitalem Plattenregal wurde zum Hoffnungsträger der Industrie. Und so landen wir wieder beim Heute. Trotz ungebrochener, täglich gelebter Liebe zu meinem iPod Shuffle ist dessen Produktion am Ende. MP3-Player sind Nische, das Musikfile auf der Platte wurde durch den Stream mit Offline-Funktion ersetzt. Und jetzt, kurz vor dem Jahresende, heißt es gar, der iTunes-Store für Musik stehe kurz vor dem Aus. Zwar wird die Musik von iTunes bereits seit Anfang der Nullerjahre im Dateiformat AAC verpackt, doch die historische Symbiose von iPod, iTunes und MP3 ist angesichts des gleichsamen Niedergangs unverkennbarer denn je. Und so dürfen die Relativierungen des MP3-Todes ihrerseits wieder relativiert werden. Die einschneidende Geschichte des massentauglichen Musikfiles nähert sich leise dem Ende. Den tatsächlichen Tod des Formats braucht es dazu nicht einmal.

Benedikt Bentler

NewSchool

Nichts ist ermüdender als das im Prinzip natürlich völlig berechtigte, ständige Genörgel an der Qualität des deutschen Filmschaffens. Eigentlich sagen alle stetig aufs Neue das gleiche, meinen aber am Ende dann doch offensichtlich völlig unterschiedliche Dinge. Die in den 1960er-Jahren gegründete Berliner Filmhochschule DFFB sieht sich selbst immer noch als eine Brutstätte des ästhetischen Widerstands, machte jedoch in letzter Zeit selten durch junge, frische und widerständige Filme, sondern vor allem durch nicht enden wollende Querelen um die Besetzung des Direktorenpostens auf sich aufmerksam. 2017 war dies jedoch anders: Julian Radlmaiers marxistisches Märchen Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes und Alexandre Koberidze vierstündiges Meisterwerk Let the Summer never come again, welches der Regisseur auf einer Handykamera der ersten Stunde drehte, zählen zu den stärksten in Deutschland entstandenen Filmdebüts der letzten Jahre. Beide Abschlussfilme sind extrem eigensinnig sowie formal innovativ und schielen nicht auf den deutschen Kinomarkt, sondern orientieren sich an den großen Autoren des Weltkinos. Zu diesen muss man, spätestens seitdem ihr neuer Film Western 2017 im Wettbewerb von Cannes lief, auch die DFFB-Absolventin und heutige Dozentin Valeska Grisebach zählen. Mit ihrem Film über einen Trupp deutscher Arbeiter, der in Bulgarien ein Wasserwerk bauen soll, beweist sie erneut: In Deutschland sind momentan ganz eindeutig Frauen die besseren Filmemacher.

Tim Schenkl

NxWorries

Als NxWorries (No Worries) 2015 ihre EP „Link Up & Suede“ veröffentlichten, hatte die Musikwelt neue Superhelden. Der Titeltrack „Suede“ war strahlender Stern in jedem relevanten Mix und ein Megahit auf SoundCloud und YouTube. Bei Stones Throw unter Vertrag sind Anderson Paak und Glen Earl Boothe aka Knxwledge die ideale Singer/Rapper-Producer-Kombi, nebenbei mit erstaunlichen Solokarrieren. Auf das ebenfalls durchschlagende 2016er-Debütalbum „Yes Lawd!“ folgte im November diesen Jahres die Remix-Scheibe. Durchaus übliche Vorgehensweise soweit, wäre „Yes Lawd! Remixes“ die gerade gehaltene Mischbatterie mit den derzeit angesagten Names in XXXXL-Überlänge. Nicht so dieser Player. Anstatt den Massen den Househalt smooth zu bestücken, greift Knxwledge tief in seine Multigenre-Trickkiste und verwandelt, besser schrumpft das Material zu extrem fokussierten Mikrokosmen in typischer J-Dilla-Mixtape-Manier, meist knapp an oder unter der Zwei-Minuten-Länge. Dass er dem Don in nichts nachsteht, ist nicht die spannende Erkenntnis, hier dreht keiner am haschenden Effektregler, hier konstruiert einer Welten und noch eine und noch eine. Folgt man seiner Diskographie, hat Boothe seit 2010 über 60 (!) Alben veröffentlicht. Da hat wohl einer was zu sagen.

Martin Raabenstein

O.J.: Made In America

Den Interviewer hört man nur sehr selten in O.J.: Made In America. Doch zu Beginn der letzten Folge der fünfteiligen Dokumentation geht dieser recht heftig eines von den zwei Jurymitgliedern an, die den Mut gefunden haben, vor den Kameras sich ihrer – und Amerikas – Vergangenheit zu stellen. Wie es denn verdammt nochmal angehen könne, dass die Geschworenen nach den Schlussplädoyers keine vier Stunden gebraucht haben, um O.J. Simpson freizusprechen, nach sage und schreibe 267 Prozesstagen. „267 Tage, also 266 Nächte?“, wirft Yolanda Crawford Regisseur Edelman zurück. 267 Tage, isoliert von Familie und Freunden, allein, in einem Hotelzimmer, ohne Fernsehen, ohne Beeinflussung von außen, völlig auf sich allein gestellt und nur das Schauspiel eines grotesk aus dem Ruder gelaufenen Prozesses im Kopf. Das ist einer von den vielen Momenten in der Oscar-prämierten Dokumentation, in denen es Klick macht. Wo einem die Zusammenhänge glasklar werden und man gezwungen wird zu verstehen, dass die Tragödie immer unausweichlich ist. Und wie sehr Ungerechtigkeit immer wieder nur Ungerechtigkeit gebiert. 2017 war kaum etwas derartig deprimierend und ernüchternd wie O.J.: Made In America. Bis auf die Realität natürlich. Schauen wir mal, wie genau 2018 unsere Herzen zu brechen gedenkt.

Alexander Buchholz

Porg

Hängengeblieben 2017 - Porg

Die 8. Episode des Star-Wars-Franchise „The Last Jedi“ ist pünktlich zum Fest 2017 in den Kinos. Während die Reviews teilweise gemischt und verhalten bis wenig begeistert sind, zudem unbehagliche Gefühle gegenüber dem Beinahe-Monopolisten Disney immer lauter artikuliert werden, gebe ich zu, dass ich am Erscheinungstag diesen Film sah und mich zweieinhalb Stunden lang großartig von diesem Familien-Abenteuerfilm (denn von Star Wars als heiligen Nerd-Gral durfte man sich schon 2015 verabschieden) unterhalten fühlte. Allen Unbehagens zum Trotz. Grund dafür sind vor allem die neuen Kreaturen, die nun die Galaxie bevölkern: Lanai, sog. „Caretaker“ auf der Tempelinsel auf Ahch-To, die Rey in Slapstick-artigen Szenen immer mal wieder verärgert, Thala-Siren, riesige, weniger ansehnliche Wassertiere, die grüne Milch geben, Fathiers, übermenschlich große Känguruh-artige Pferde, die die obligatorische Verfolgungsjagd spielen, Vulptex, kristalline Füchse (in den deutschen Untertiteln tatsächlich „Funkelfüchse“ genannt), die den Salzplaneten Crait bevölkern. Und schließlich Porgs, die schon vor Erscheinen des Films das Internet zum Quietschen brachten. Das scheint auch das alleinige Ziel ihrer Existenz zu sein, narrativ tragen sie nicht viel bei. Porgs sind kleine Pinguinwesen mit großen Augen und Nagetiergesicht und sie bevölkern ebenso die Insel auf Ahch-To. Es steckt schon viel Disney in diesen possierlichen Wesen: Wenn Chewie versucht, einen ihrer gegrillten Artgenossen zu verspeisen, bedrängen sie ihn traurig-schockiert mit ihren riesigen Augen. Auch wenn ihre Anwesenheit und ihr Meme-Potential Kalkül ist, die „Ohhhs“ im Kinosaal ein bisschen zu oft kommen, sie den Film spürbar klamaukig machen und tatsächlich schon tätowiert werden – sie sind trotzdem ein guter Grund, warum Episode 8 so viel Spaß macht.

Susann Massute

rolling penis pin gif

Rolling Penis

Dieses Jahr wurde endlich zurückgeschlagen: Die seit Jahren so selbstvergessene wie testosterongesteuerte Gastrojournaille Rolling Pin, triefend vor rotem, rohem Fleisch, messerblitzend und vor allem ständig männliche Köche aufs Cover hebend, die mit finsterem Antlitz wohl besonders männlich (sprich: böse) aussehen sollen, bekam ordentlich was in die Eier. Daran, dass 49 von 50 beste Köche bei einem (eigentlich völlig egalen) Award Männer sein sollten, entzündete sich Kritik in sozialen Netzwerken, denen das Magazin Rolling Pin, Veranstalter jenes Stelldicheins, mit Blockieren und Sperren begegnete. Und einem Statement des Herausgebers, das statt einer Entschuldigung das gastrosexistische Gebahren nur noch um so fratziger darstellte. Schnell kam danach Ana Roš, die „beste Köchin der Welt“, aufs Cover. Mit Altrosa-Hintergrund. Puh. Es ist eigentlich egal, es ist nur ein Fachmagazin, das eine doofe Weltanschauung hat. Aber, so schrieb die Berliner Journalistin Aida Baghernejad treffend zum Thema: „Worte schaffen Realität und deswegen kann man schlüpfrige Witze – wie sie übrigens auch auf der Rolling-Pin-Facebookseite gepflegt werden – und dumme Sprüche in der Küche auch nicht einfach ignorieren. Sie erschaffen eine Atmosphäre und eine Realität, in der Frauen oft auf ihre Sexualität reduziert werden.“

Jan-Peter Wulf

Sebastian Kurz

In Teilen von Österreich war der 15. Oktober ein vergleichsweise lauer Sonntag im Herbst, zumindest solange, bis mit den ersten Hochrechnungen der Nationalratswahl ein starker Wind von rechts durch sieben von neun Bundesländern zog. Die Sozialdemokraten rutschten ab und die Grünen flogen sogar raus, als sich 31,5 Prozent aller Wähler für Die neue Volkspartei von Sebastian Kurz entschieden und den 31-jährigen Wiener damit zum jüngsten Regierungschef Europas machten. Kurz zu Kurz: 2011 wurde der junge Volksparteiler zum Staatssekretär für Integration, 2013 mit 27 Jahren zum jüngsten Außenminister und danach mit jeder Debatte zur Flüchtlingskrise eine Spur radikaler. Genau das Richtige für die ÖVP, die mit ihren Themen schon seit Jahren nicht mehr so richtig überzeugen konnte und einem polarisierenden Kurz gerne den Vorsitz überließ. Mittlerweile führt der seine eigene Liste an, tauchte diese vor der Wahl noch schnell in frisches, richtungsweisendes Hellblau Türkis und soll nun gemeinsam mit HC Strache und den Freiheitlichen eine Regierung bilden. Die kippten zur Feier des Tages gleich mal das geplante, absolute Rauchverbot. Für die richtig guten Nachrichten sorgt also besser der Verfassungsgerichtshof: Denn auch, wenn der neue Kanzler es nicht unterschrieben hätte, setzt sich die Ehe für alle ab 1. Januar 2019 nun auch in Österreich durch.

Jasmin Tomschi

Schuld

Schuld ist eine harte Waffe, man muss sie nur zu nutzen wissen. Während die eine Religion dich als schuldig von Geburt an in ihren Büchern führt, lässt dich die nächste in die unentrinnbare Falle der Blasphemie tappen. Denn: Derjenige, der die Blasphemie hört, kann die Tat zwar anzeigen, nicht aber deren Inhalt, er würde sich sonst selbst schuldig machen. Das ist Schuld ohne direkten Beweis, ohne Zeugen, eine klare Carte Blanche, ein intelligent eingefädelter Anreiz zur Denunziation. In Zeiten der Hexenverfolgungen – eine durchaus vergleichbare Situation – war eine der bedeutendsten Garantien demokratischen Denkens, die unabhängige Rechtsprechung, noch unbekannt. Alles scheint sich zu wiederholen. „Im Zweifel für den Angeklagten“ hängt der Muff alter Zeiten an und ist das exakte Gegenteil des heutzutage grassierenden Shitstorm-Wahns. Zu reizvoll die Treibjagd, zu erregt, die sich im Recht sehende Meute. Die größtmögliche Wirkung erzielt hierbei logischerweise der Generalverdacht. Mexikaner, Migranten, Männer, egal welches Thema, aus welcher soziopolitischen Richtung der Fingerzeig auch kommen mag, die wütende Masse brüllt sich in die Entrüstung. Ob an den Stammtischen oder im bundesdeutschen Feuilleton, der gemeinsame Brunnen ist vergiftet. Im Sturm der entfachten Emotionen erstickt das kümmerliche Licht der Hoffnung auf Dialog. Der Verdacht ist Beweis und Richterspruch in einem. Willkommen im Mittelalter 2.0.

Martin Raabenstein

Sleep Radio

Falls 2018 irgendwas richtig machen will, könnte es ja Sleep Radio groß rauskommen lassen. Und auf Tour schicken. Eventuell auch nach Berlin? Sollte drin sein. In der Zwischenzeit:

Alexander Buchholz

mikrofone screenshot

Sprachverwirrung

Eines der bestimmenden Technik-Themen 2017 war – wieder einmal – die Sprachsteuerung. Schuld daran war Amazon und die mittlerweile onmipräsente Alexa, aber auch Google, deren eigene Assistenz und KI seit diesem Jahr auch in Deutschland zu haben ist, in Lautsprechern und Telefonen. Die Idee dahinter ist verführerisch, der Mehrwert hingegen nach dem ersten Schenkelklopfer, der gestarteten Playlist und einer ambitionierten Klopapier-Bestellung nach wie vor überschaubar. Die Systeme der KI, die Alexa und Co. steuern, sind komplex und noch längst nicht so weit, uns das Wasser reichen zu können. Ein schwieriges Thema, mit dem in den letzten Jahren reichlich Schindluder getrieben wurde – an der Aufarbeitung sind wir dran. Und doch gibt es immer mehr Gerätschaften, mit denen man „reden“ kann. Ohne die Integration dieses Features trauen sich Hersteller bei bestimmten Produkten gar nicht mehr ernsthaft auf den Markt. Ein Markt, der global gesehen bislang alles andere als groß ist: Alexa zum Beispiel kann nur in wenigen Ländern muttersprachlich um Hilfe gebeten werden: USA, Großbritannien, Kanada, Indien, Deutschland und seit kurzem auch Japan. Bislang sträubte sich Amazon wegen der Sprachbarriere dagegen, die Echo-Lautsprecher auch in anderen Ländern zu verkaufen: Alexa kann kein Italienisch, Spanisch, Türkisch oder Dänisch – noch nicht. Jetzt lassen sich die Lautsprecher immerhin bestellen und dann auf Englisch anlabern. Das dürfte die Sprachverwirrung noch größer machen. Denn wer mit Alexa kommuniziert, muss die eigene Sprache so verändern, dass die Wolke sie versteht. Und das ist nicht gut. Die aktuelle Situation erinnert an die Schrifterkennung der PDAs, bei der man sich abstrakte Symbole antrainieren musste, die von den Geräten dann in Buchstaben übersetzt wurden. Meistens. Naja, eher selten, darum scheiterte die Produktkategorie damals auch sang- und klanglos. Warum soll sich die Menschheit von ihren Gewohnheiten lösen und neue Lockrufe einprägen, nur um sich den Wetterbericht anhören zu können? Dass das noch lange so bleiben wird, scheint klar. Hoffentlich ist das den meisten einfach zu blöd. Weil Sätze wie: „Alexa, öffne Deutsche Bahn und frage nach dem ICE nach Hamburg“ einfach nicht klingen.

Thaddeus Herrmann

Wirklichkeit gesucht

Vielleicht werden wir uns einmal an 2017 zurückerinnern als jenes Jahr, in dem die Unterscheidbarkeit von Simulation und Wirklichkeit auf immer verloren gegangen ist. Es war ja abzusehen: Die ganzen Fakenews, die dann doch ziemlich echte Effekte hatten, und die tatsächlichen Nachrichten, die uns immer mehr wie schlechte Scherze vorkamen; die Perfektionierung virtueller Welten neben der klammheimlichen Zerstörung realer Lebensgrundlagen (siehe Insektensterben); und die großen Fortschritte in der KI während das Gut der „natürlichen Intelligenz“ vom Aussterben bedroht scheint. Ein Blick in die Programme einiger deutscher Kunsthäuser genügt, um dem vergangenen Jahr ein wortarmes Wirklichkeitsbegehren zu attestieren: Unreal, How Real is Real?, Somehow Real, The Return of the Real, Keep it Real – so und so ähnlich hießen diesjährige Veranstaltungen, Kampagnen und Ausstellungen. Auch die Herbstausgabe des Kunstmagazins Spike titelt: The Real. „Leben wir in einer Simulation?“, wird da im Editorial gefragt – was nur allzu verständlich ist. Wer wünscht sich in einem Jahr wie diesem nicht, dass endlich jemand kommt, einem den Kopf tätschelt und sagt: „War ja alles gar nicht echt.“

Vanessa Oberin

loading gif gruen

Xanax

Cloudrap hat ein Drogenproblem. Während hiesige Ableger sich aufteilen in wenige nüchtern talentierte Nachwuchskünstler (LGoony) und einige lächerlich schlechte Möchtegern-Auswüchse (Hustensaft Jüngling), ist das offensichtliche Kokettieren mit Medikamenten wie Codein (ebenjener Hustensaft) oder Beruhigungsmitteln wie Xanax andernorts mehr als bloß Prollcontent, der Verse fühlt. Und das ist echt scheiße. Nichts wurde deutlicher, als Lil Peep nach einem Konzert Tuscon, Arizona am 15. November die zeitliche Überdosis segnete. Denn auch wenn sein künstlerisches Schaffen vielmehr auf das Erbe von Post-Hardcore und Emo zurückgeht und er Kurt Cobain näher scheint als Young Thug oder Lil B., sind neben Trap-Beats, Autotune und Internet-Erfolg offensichtlich verschreibungspflichtige Medikamente als inhaltlicher Bestandteil das verbindende Element dieser Rap-Generation. Lil Peep wurde nur 21 Jahre alt. Per Instagram konnte man seinen Tod, wenn auch nicht ganz, so doch gefühlt live miterleben. So wundert es nicht, das neben Post Malone oder Diplo auch Lgoony dazu aufrief, das „verfickte[n] übertriebene [n] promoten von behinderten drugs“ sein zu lassen, während sich Lil Xan, der nun ab 2018 mit den Scheiß-Pillen aufhören will, und der Schwede Yung Lean (benannt nach gleichnamiger lila-farbener Hustensaftmixtur) sich sicher noch öfter überlegen werden, ob ihr Künstlername für die Ewigkeit gemacht ist. Der vorläufige, traurige popkulturelle Höhepunkt der Opiod-Krise in den USA und hoffentlich Aufwachmoment der jüngsten Rap-Generation. Das im August von Lil Peep veröffentlichte Debütalbum heißt „Come Over When You’re Sober, Pt. 1.“

Benedikt Bentler

Video-Content

Kein Video, keine Aufmerksamkeit – so müsste rückblickend das Social-Media-Motto 2017 lauten. Während Hochkant das 16:9 des Newsfeeds ist, Selfie-Cams in Handys für den asiatischen Markt eine bessere Auflösung haben als die einst als Erstkamera gedachte Linse der Rückseite und Snapchats Untergang im Kampf um die größte/beste Plattform für Video-Storys mit dem Börsengang seinen Lauf nahm, ist Bewegtbild zum fast obligatorischen Medium für den Transport von Inhalten geworden. Die Gewinner sind oder vielmehr der Gewinner ist: Facebook samt Instagram. Deren Feeds und Algorithmen diktieren die privilegierte Darreichungsform von Content. Und sie bevorzugen Videos, direkt durch bessere Platzierung im Feed und indirekt dank Autoplay. Ende 2017 bekommen selbst Texte einen zwischen zehn und neunzig Sekunden dauernden Video-Teaser, der Gesagtes auf drei knackig ins Bild fliegende Zitate herunterbricht oder auch reduziert. Größter Verlierer ist der komplexe Zusammenhang – ausgerechnet. Like. Wisch. Next.

Benedikt Bentler

xanax lil peeps

Screenshot: Lil Peeps Instagram

Young Thug – Wycleaf Jean

Zur Weihnachtszeit kommen sie wieder, all die kreativen, festlichen Werbespots. Ganz groß war auch der von DOJO produzierte „Der ehrlichste Weihnachtsspot der Welt für den Elektronikhersteller Conrad. Zu hören ist das Kundenbriefing und zu sehen ist DOJOs freche Eins-zu-Eins-Umsetzung. In die gleiche Kerbe schlug schon viel früher dieses Jahr das wirklich witzige Video zu Young Thugs „Wycleaf Jean“. Der Künstler selbst erschien nie, aber fütterte vorher den Regisseur Ryan Staake mit Ideen. Entstanden ist ein komisches Meta-Video übers Videomachen und Künstleranimositäten – gespickt mit Untertitelkommentaren des Regisseurs. Ironischer Höhepunkt: Mit diesem Video gewann Young Thug seinen ersten MTV Video Music Award.

Susann Massute

Zugezogen Maskulin

Musik als Identifikationsfläche? Das funktioniert im Teenageralter ganz gut. Die erste große Liebe wurde zum Beispiel in all ihren Ausprägungen schon immer auf vielfältigste Art und Weise vertont – da ist für jeden was dabei. Das Gefühl beim Hören jener Musik ist phänomenal: Da sagt jemand, was man selbst denkt, bringt das eigene Innenleben zum Ausdruck, kanalisiert Empfindungen musikalisch und pointierter, als man selbst es jemals könnte. Aber mit dem Alter wird das Phänomen zur Ausnahme, erst recht wenn der musikjournalistische Anspruch sowieso keine völlige Vereinnahmung der musikalischen Kunst erlaubt bzw. ermöglicht – Stichwort professionelle Distanz. Zugezogen Maskulin hat meine Erinnerungen an das Gefühl von Identifikation mit Musik wieder aufgefrischt. Keine Ahnung, wann ich mich das letzte Mal so sehr durch einen Künstler repräsentiert gefühlt habe. Mit Sicherheit tragen autobiographische Überschneidungen (aus westfälischer Provinz in die Hauptstadt gezogen) mit Grim, einer Hälfte des Duos, dazu bei. Mit Sicherheit ist das aber nicht alles. Niemand aus der Sparte Deutschrap, aber (ziemlich sicher) auch kein anderer Musiker jeder sonstigen Sparte, bildet die Absurditäten und Widersprüche des politischen und gesellschaftlichen Lebens der heutigen Mittelstands-Generation zwischen 20 und 30 textlich schärfer und beißender ab. Vor allem bringen Grim und Testo auf den Punkt, was ankotzt – und dessen gibt es reichlich. Ihre Musik tut gleichermaßen weh und gut, wirkt letzten Endes aber doch einer ultimativen Katharsis gleich. Das ist natürlich nur die Behauptung eines Fanboys, denn wie erwähnt, fehlt mir dank totaler Identifikation mit den Versen des im Oktober erschienen Albums jede Distanz. Zugezogen Maskulin sind der sind der Anker lyrischer Relevanz meiner Deutschrap-Erinnerungen 2017. Lasst euch gesagt sein: Wenn es ein textliches Pflichtprogramm für deutschsprachige Musik 2017 gibt (was getrost bezweifelt werden darf, aber trotzdem), dann ist „Alle gegen Alle“ dessen einziger Programmpunkt.

Benedikt Bentler

bye bye 2018

Filter Tapes 028„Aquanauts“ von DJ Dash

Stevens EntscheidungFilmkritik: „The Killing of a Sacred Deer“